Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
der höchstrichterlichen Rechtsprechung schließlich Anwendung fand.
Obwohl wir nach 1989 auf Karl Jaspers, Gustav Radbruch und andere zurückgreifen konnten, erwies sich unsere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als schwierig und langwierig. Auch ich habe mir über die zeitliche Dimension der Aufarbeitung Illusionen gemacht und geglaubt, sie sei wohl in ein paar Jahren zu bewältigen.
Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass jede Generation ihre eigene moralische Selbstgründung vornehmen muss. Wir können uns zwar immer wieder um eine neue rationale Vermittlung von Vergangenem bemühen, dürfen aber die jeweiligen mentalen beziehungsweise Gefühlswelten, auch die Aufnahmefähigkeit oder -bereitschaft einer Gesellschaft nicht unberücksichtigt lassen.
Raul Hilbergs gründliche Rekonstruktion der Vernichtung der europäischen Juden , in Amerika schon 1961 erschienen, benötigte über zwanzig Jahre, ehe ein linker Kleinverlag eine deutsche Übersetzung herausbrachte, und weitere Jahre, bis sie zu den Standardwerken gehörte. Eine wirklich breite öffentliche Auseinandersetzung mit dem unfassbaren Verbrechen des Mordes an den Juden begann freilich erst, als die Massenmedien etwa in der Fernsehserie Holocaust Millionen von Menschen auch auf einer emotionalen Ebene erreichten.
Eben deshalb sind die politischen und künstlerischen Auseinandersetzungen über Recht und Unrecht, Gut und Böse, über Moral und Interessen so wichtig, weil sie die Haltungs- und Urteilsfähigkeit von Einzelnen befördern – den Willen und die Fähigkeit zur Urteilsbildung im Sinne von Hannah Arendt. Dieses Element der Ermächtigung ist es, dem bei unserem deutschen Modell besondere Bedeutung zukommt.
20 Auszug aus Joachim Gauck, »Die friedliche Revolution und das deutsche Modell von 1990«, in: Neville Alexander, Jutta Limbach, Joachim Gauck, Wahrheitspolitik in Deutschland und Südafrika, Offizin Verlag, Hannover 2001, S. 53–74.
21 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (= Schriften zur Zeit , Bd. 11), Zürich 1946.
22 Gustav Radbruch, »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105ff.
Von der Würde der Unterdrückten
Der Beitrag erschien 1992 in »Aktenkundig« 24
Im Frühjahr 1992 will ich selbst fragen, was andere mich fragen: ob das noch angeht, was wir – nun »aktenkundig« – tun. Ob, wenn mich schon Unlust wegen meiner Arbeit ankommt, ich wenigstens sagen kann, dass noch zusammen ist, was einmal zusammenkam, als ich die Aufgabe übernahm, das Erbe der Stasi-Akten zu verwalten. Und zusammengekommen war in der Geschichte meiner persönlichen Entwicklung viel: Erstens die frühe und nie zur Ruhe gekommene Sehnsucht nach Freiheit. Sie entstand, als ich ein Kind war, ältestes unter vier Geschwistern, zeitweilig zur Halbwaise gemacht, weil Stalins Leute den Vater eines Sommers von der Geburtstagsfeier in den Gulag brachten – für fünf Jahre (geplant waren zweimal fünfundzwanzig). Sie wuchs 1953 und 1956, sie war lebendig wie nie im August 1961; sie war 1968 – Prag – noch stärker, in der Ahnung, dass irgendwann das Argument der Panzer nicht mehr wirksam sein würde. Und als meine Sehnsucht sich in konkrete politische Hoffnung wandelte, geschah dies, weil in Polen Freiheitswille zur politischen Macht wurde – Solidarność.
Rebelliert hatte ich in all den Jahren weder als Student noch als Pfarrer. Zum Märtyrer war ich nicht berufen. Ich hatte Glück, denn ich fand einen Beruf, der mich gleichzeitig ganz »hier« und doch deutlich »anders« leben ließ. In meiner Kirche waren mir früh Menschen begegnet, von denen ich dies lernen wollte. Es gab da Leute, die trotz aller lauten Tagesparolen eine Wahrheit suchten, die die ihre sein konnte, die auch schon wussten, was ich noch erst hoffte: dass Sinn in einem Menschenleben sein könne ganz unabhängig davon, wie die Verhältnisse und Lebensumstände sind. Da war noch mehr zu erfahren: Nähe zu und Vertrauen zwischen Menschen, die sich sonst in diesen Jahren eher vorsichtig beäugten und die Technik der dosierten und kalkulierten Zuwendung trainierten (zu Menschen wie zu Themen).
Zweitens mein Beruf also, der mich das realistische Menschenbild der Bibel lehrte und vertreten ließ, der meinen Hoffnungen Tiefe aus dem Glauben gab, der mich lehrte, Zeugnis abzulegen von Befreiung, Aufbrüchen und Auferstehung, der mich erleben ließ, was in der Schrift schon stand (»denn seine Kraft ist in den Schwachen mächtig«), der mir
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