Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Stasi-Akten zu machen.
Ein Teil der Presse hat sich darauf verlegt, mich persönlich oder die Behörde der Aktengläubigkeit zu zeihen. Wer so spricht, hat nicht richtig recherchiert; gelegentlich soll wohl auch gezielt Misstrauen gesät werden. Mancher Kritiker hat keinerlei Aktenkenntnis. Grundsätzlich fällt auf, dass das Urteil darüber, wie mit den Stasi-Akten umgegangen werden soll, desto sicherer ausfällt, je weiter man von den Akten und von den Gefilden der Unterdrückung und des Leids entfernt ist.
Die Akten enthalten neben den genannten Plänen auch Ansammlungen von Fakten, die schlicht ernst genommen werden wollen, weil in diesen Teilen Arbeitsergebnisse dargestellt wurden, auf denen weiteres Handeln der Stasi aufgebaut werden sollte. Deshalb durfte die Fantasie der Stasi-Mitarbeiter sich hier schwerlich entfalten.
Derartige Unterlagen bewahren im Übrigen auch ein Wissen um Widerstand und Zivilcourage – manchmal bis zum Heldentum. Es ist ja nicht so, dass die Akten nur ein Zeugnis des Versagens und der Schuld sind; sie sind Zeugnisse der Manipulierung von Menschen durch eine Macht, die sich absolut setzte und die sich mit Menschen alles erlaubte. Sie sind zudem Zeugnisse des Scheiterns, Zeugnisse des Kampfes gegen das Scheitern und schließlich des Unterliegens. Auch im Unterliegen gibt es noch Unterschiede der Kooperation – eine hinhaltende, eine taktierende, eine bereitwillige und eine übererfüllende Kooperation. Daneben gibt es die Zeugnisse des Widerstandes. Zeugnisse sogar dafür, dass auch Genossen, die mit der SED gingen, sich geweigert haben, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten.
Hier hat sich im Ganzen ein überaus wichtiges Quellengut erhalten. Und wir wären gut beraten, es zu würdigen. Es gibt eine Vielzahl von Zeitzeugen, die darüber Urteile abgeben können. Und es ist interessant zu sehen, wie sich die Urteile dieser eng mit dem Material vertrauten Zeitzeugen von Aussagen publizistischer oder politischer Einflussnehmer unterscheiden, die dieses Material nicht kennen.
Ich beobachte an mir seit meiner Arbeit in dieser Behörde etwas Merkwürdiges. Ich habe mich zwar zeitlebens als Mecklenburger fühlen wollen, ohne dass ich es durfte, denn Mecklenburg hatten die Kommunisten wie alle anderen Länder abgeschafft. Aber ich habe mich nie bewusst als DDR-Bürger fühlen wollen. Das ließ mein Stolz, das ließen mein Demokratieverständnis und mein Freiheitsbewusstsein nicht zu. So kam es, dass ich, während es die Spaltung gab, mich deutlich als Deutscher fühlte. Seit es aber die Spaltung nicht mehr gibt, fühle ich mich deutlich als Ostdeutscher, obwohl mein politisches Bewusstsein schon zur Zeit der Wende und bis heute die Einheit bejahte.
Das widerspenstige Gefühl hat seine Gründe, die ich zu respektieren lernen musste. Letztlich bestehen sie darin, dass man über die Erkenntnisse der Fakten allein Vergangenheit nicht zureichend vergegenwärtigen und sie schon gar nicht bearbeiten kann. Ich denke, dass zum Ernstnehmen dieser Vergangenheit der kommunistischen Diktatur (wie der Vergangenheit der faschistischen Diktatur) die Dimension des gelebten Lebens gehört. Der Vergangenheit zu begegnen meint doch für den Zeitgenossen auch dies: die Erinnerung an erlebte Leiden, gehegte Hoffnungen, geführte Kämpfe und das Bewusstsein, in alledem ein besonderes Leben geführt zu haben – ein anderes eben als diejenigen, die vergleichbare Leiden und Entfremdungsprozesse nicht durchgemacht haben.
Das Problem der Debatte zwischen Ost und West besteht also nicht so sehr darin, dass sich die Sachverständigen mit den weniger Sachverständigen zu unterhalten hätten; unzählige Westdeutsche verfügen ja über hinreichenden Sachverstand, um in die aktuelle politische Debatte einzugreifen. Das Problem besteht darin, eine Tiefendimension der Begegnung mit Vergangenheit zuzulassen, in der Schmerz, Leiden oder aber Schuld, Versagen und Gewissensnot an die Oberfläche geholt, quasi aus dem Gefängnis der Verdrängung befreit werden. Und aus diesem Grunde ist es so schwer, Vergangenheit, die nur die Vergangenheit eines Teiles Deutschlands ist, gemeinsam aufzuarbeiten.
Was folgt daraus? Wir sollten versuchen, unsere westdeutschen Gesprächspartner um eine gewisse Zurückhaltung gegenüber unserer Bemühung um die Vergangenheit zu bitten. Wir wollen nicht, dass sie schweigen; sie sollen uns Fragen stellen. Aber sie sollen nicht diejenigen sein,
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