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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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ein altes Wissen über das »Auferstehen« anbot, bis ich endlich ein wenig davon verstehen lernte – und der mich vor allem mit einem segnete: mit der Nähe zu lebendigen, suchenden Menschen. Da wuchs etwas – und ich merkte es noch nicht.
    Ein Drittes: 1989, noch bevor der SED die lange geplanten Jubelfeiern des vierzigsen Jahrestages zur Farce gerannen, waren es einige im Osten endgültig satt, nur der öffentlichen oder der privaten Depression zu huldigen: Wo international (Helsinki trug endlich Früchte) Entspannung und etwas Vernunft – bei der Hegemonialmacht gar Glasnost und Perestroika – um sich griffen, sollte in der DDR auch ein Wandel möglich werden. Einige altgediente Liebhaber der Zivilcourage verbündeten sich mit jugendlich-alternativem und christlichem Protestpotential: Menschen- und Freiheitsrechte sollten nicht nur, wenn es um die Dritte Welt ging, sondern ganz speziell für unsere Verhältnisse thematisiert werden.
    Da wollten wir mittun, in den Kirchen und auf den Straßen. Meine Kolleginnen und Kollegen der evangelischen Kirche stellten mich damals für die Gestaltung der großen wöchentlichen Gottesdienste frei (in Rostock immer donnerstags), aus denen die Demonstrationen erwuchsen. Aus dieser Zeit stammt der Wunsch meiner politischen Freunde aus dem mecklenburgischen »Neuen Forum«, dass ich für die Wahl zur freien Volkskammer kandidieren solle; und ich fand, dass das richtig sei. Ich wollte nicht fünfzig Jahre in Unfreiheit gelebt haben und bei der ersten Gelegenheit, Freiheit politisch mitzugestalten, passiv bleiben.
    Ich wurde gewählt, was damals für Kandidaten aus der Bürgerbewegung recht schwierig war. Als Abgeordneter habe ich im Bereich Innenpolitik gearbeitet, und als es zur Gründung eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Stasi-Auflösung kam, haben mich die Abgeordneten dieses Ausschusses zum Vorsitzenden gewählt. Die Abgeordneten der Volkskammer misstrauten der Stasi-Auflösung nach Art des Innenministers Peter-Michael Diestel, so gab es viel zu tun. Eine Hauptaufgabe sollte über die Existenz der Volkskammer hinausweisen: Die Abgeordneten erarbeiteten alternativ zu einem Regierungsentwurf ein Gesetz, das den Umgang mit Stasi-Unterlagen regelte. Es enthielt Grundsätze, die später im Stasi-Unterlagen-Ggesetz des Deutschen Bundestages beachtet wurden.
    Lebenswirklichkeit, Sehnsucht und Hoffnungen eines »DDR-Bürgers«, Glaubenshintergrund und Berufsalltag eines mecklenburgischen Pastors, die politischen Aktivitäten der revolutionären Wende und die neuen Möglichkeiten als Mitglied einer obersten Volksvertretung – ich musste all das noch einmal aufrufen. Eins hing unlösbar mit dem anderen zusammen: So war auch der nächste Schritt konsequent: mein Ja, als ich durch die Volkskammer zum Sonderbeauftragten gewählt und anschließend durch den Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Bundesinnenminister berufen wurde.
    Es war früh vorauszusehen, dass die offene Beschäftigung mit belasteter Vergangenheit eine konfliktreiche öffentliche Debatte auslösen würde. Gegenwärtig, im Frühsommer 1992, steht das Thema »Stasi und Kirchen« im Mittelpunkt öffentlichen Interesses. In diesem Zusammenhang wird auch die Grundentscheidung evangelischer Kirchen thematisiert, sich als »Kirche im Sozialismus« zu definieren.
    Mit dem Begriff »Kirche im Sozialismus« verbinde ich, wie die meisten meiner Kollegen, durchaus Zwiespältiges. Wir haben diese Begrifflichkeit oftmals diskutiert, es ist im Grunde nie zu einer kirchenamtlichen Festlegung gekommen, doch man darf davon ausgehen, dass die Pfarrer, je enger sie sich an der Basis orientierten, desto kritischer den Implikationen im Sinne des Staats gegenüberstanden. In meiner Landeskirche ist diese Diskussion durch das Wirken des damaligen Bischofs Dr. Heinrich Rathke geprägt worden, einem überaus engagierten, für viele junge Theologen vorbildhaften Pastor, der im Rostocker Neubaugebiet früh eine Beziehung zur Gemeinde gestaltet hat, die in einer lutherischen Kirche durchaus nicht selbstverständlich war: Verzicht auf liturgische Formen, unbedingte Nähe zu den Sorgen und Problemen der Menschen. Eine Nähe zur Botschaft Dietrich Bonhoeffers zeichnete diesen verehrungswürdigen Mann aus, der in den siebziger Jahren durch wichtige Referate und Diskussionsbeiträge maßgeblich in die Debatte eingegriffen hat. Unter dem Stichwort »Kirche für andere« wollte er zeigen, dass wir nicht im Warteraum der Zeit lebten, sondern uns

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