Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
selbst nicht Verantwortung trug. Die Nachkommen griffen ein Thema auf, das die Täter und Mitläufer sträflich vernachlässigt hatten. Doch seit den siebziger Jahren herrscht in Deutschland in breiteren Schichten die Einsicht, dass sich Verdrängung der Vergangenheit politisch nur negativ für die Entwicklung des Gemeinwesens auswirken kann.
So kann man für Deutschland zusammenfassend sagen, dass einerseits der revolutionäre Politikansatz der ostdeutschen Demokratiebewegung, andererseits das in langen Auseinandersetzungen gewachsene Bewusstsein der westdeutschen Gesellschaft seit den 1968er Jahren zu einem »deutschen Modell« führte, dessen stärkste Seite sicher darin besteht, vorrangig für die Interessen der Unterdrückten einer Diktatur einzutreten. Gewiss lässt sich dieses Modell nicht nahtlos in Länder mit anderen Konstellationen übertragen. Ich nehme Bischof Desmond Tutus Auffassung ernst, dass es in Südafrika zum Bürgerkrieg oder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen wäre, hätte sich das Land in der Auseinandersetzung mit der Herrschaft der Apartheid etwa für das deutsche Modell entschieden. Südafrika musste in der Übergangssituation das Bedürfnis der Unterdrückten nach Gerechtigkeit respektieren, gleichzeitig aber die Noch-Herrschenden vor Rache schützen. So entschied sich Südafrika für die Wahrheitskommissionen und bot Amnestie gegen Wahrheit. Für viele Regionen in Südamerika ist dieses südafrikanische Modell zur großen Hoffnung geworden.
In Deutschland hatten wir aber weder nach 1945 noch nach 1989 Gewalt zu befürchten; zudem konnten wir uns auf eine alte geschichts- und politiktheoretische, auch ein Stück weit philosophische Arbeit stützen, die von Karl Jaspers in der Nachkriegszeit geleistet wurde. Ganz früh, unmittelbar nach dem Krieg, hat er den Deutschen in seiner berühmten Vorlesung des Wintersemesters 1945/46 ausführlich die Frage von Schuld und Verantwortung auseinandergesetzt 21 und gefragt, was Schuld im politischen Raum bedeutet. Er stellte in diesem Zusammenhang vier Kategorien der Schuld auf:
Erstens die kriminelle oder strafrechtliche Schuld, die durch eindeutigen Gesetzesbruch entsteht.
Zweitens die politische Schuld, die Staatsmänner tragen, aber auch alle Staatsbürger, insofern sie Mitverantwortung für ihre Regierung tragen.
Drittens die moralische Schuld, die hinsichtlich aller Handlungen besteht, selbst wenn sie befohlen wurden.
Viertens die metaphysische Schuld gegenüber Gott oder den engsten Mitmenschen.
Jede dieser verschiedenen Formen von Schuld bedarf nach Jaspers einer eigenen Instanz der Bearbeitung: Bei der moralischen Schuld ist es das eigene Gewissen, bei der strafrechtlichen Schuld das Gericht. Derjenige, der meint, er könne der strafrechtlichen Bearbeitung von Schuld entgehen, weil er zu Gott gebetet und um Vergebung der Sünden gebeten hat, ist damit die »Schuld« im strafrechtlichen Sinne keineswegs los. Und umgekehrt ist derjenige, der seinen Richter gefunden hat und durch Verurteilung oder Freispruch die kriminelle Schuld bearbeitet hat, noch nicht die moralische, politische oder metaphysische Dimension seiner Schuld los.
Es kann sein, dass wir einen Täter nicht vor Gericht bringen können, weil unsere Rechtsnormen eine Verurteilung nicht zulassen. Es muss aber dennoch möglich sein, seine Verantwortung im öffentlichen Diskurs zu benennen. Insofern können auch Personen ohne Verurteilung zur Haftung herangezogen werden.
Wenn wir also den Ansatz von Jaspers berücksichtigen wollen, müssen wir der Mehrdimensionalität von Schuld Rechnung tragen. Dabei bleibt nach meiner Auffassung die strafrechtliche Verfolgung immer eine notwendige und unverzichtbare Bearbeitungsform. Eine Gesellschaft würde sich entmächtigen, wenn sie den Rechtsbruch und die Rechtsbeugung in der Vorgängergesellschaft ungeahndet ließe. Zwar hat bei der strafrechtlichen Ahndung politischer Verbrechen in der Regel der rechtliche Grundsatz des Rückwirkungsverbotes zu gelten. Gleichzeitig aber muss meiner Ansicht nach auch der Auffassung Rechnung getragen werden, wie sie der große sozialdemokratische Rechtslehrer Gustav Radbruch 1946 in Bezug auf die NS-Verbrechen entwickelte. 22 In Fällen, so Radbruch, in denen das geschriebene Recht in allzu eklatantem Widerspruch zur Gerechtigkeit steht und Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt ist, habe das »gesetzliche Unrecht« dem »übergesetzlichen Recht« zu weichen, eine Theorie im Übrigen, die auch in
Weitere Kostenlose Bücher