Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Vorurteile. Was die Presse daraus macht, ist teilweise ein völlig anderes Thema.
Ferner möchten einige Leute, die in der Regel im Westen wohnen und sich mit den ehemaligen Verantwortungsträgern im Osten verbünden, gern den Eindruck erwecken, dass es eine kollektive Bereitschaft zur Kollaboration gegeben habe und diese überdies normal gewesen sei. Das Gegenteil ist der Fall: Weniger als ein Prozent der DDR-Bürger hat inoffiziell mit der Stasi zusammengearbeitet, zwei Prozent wären es, wenn wir die Hauptamtlichen der Stasi mitrechneten. Es gilt, die Relationen im Blick zu behalten. Wir waren kein Volk von Spitzeln, und die wohlwollende Entschuldigung ist genauso wenig angebracht wie die diffamierende Verurteilung.
Beendeten wir die Beschäftigung mit der Vergangenheit, würde uns dies in eine zweite Schuld stürzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Maß an Schuld, das Unmaß an Verbrechen so groß, dass es vielleicht eine psychische Überforderung bedeutet hätte, wenn die breite Masse des Volkes schon sofort hätte bereit sein sollen, sich der Schuld zu stellen. Zwar hat auch der Kommunismus insgesamt große Schuld auf sich geladen. Wir Deutschen aber haben hauptsächlich das dürre Gerippe mangelnder Zivilcourage in unserem Schrank, und wir müssen die Begegnung mit der Vergangenheit nicht ängstlich der nachfolgenden Generation überlassen. Wer meint, sich vor der Vergangenheit drücken zu sollen, entweder weil es aktuell politisch wichtigere Themen gibt oder weil es bestimmten Sympathiepersonen der Öffentlichkeit im Moment schlecht geht, der wäre wirklich falsch beraten. Die Vergangenheitsbearbeitung als Luxus darzustellen bedeutet, sehenden Auges die zweite Schuld einer Vergangenheitsverdrängung auf sich zu laden.
Bürger haben mit dem Gesetz über die Stasi-Unterlagen eine ganz neue Möglichkeit, früher streng geschütztes Material eigenständig und subjektorientiert zu nutzen. Wir erfahren, dass das Recht, mit vormals geschütztem Material umzugehen, ein Element von Freiheit enthält. Schlimm wäre es, wenn wir den Einflüssen folgten, die, in merkwürdigen Koalitionen auftretend, den Bürgern sagen, dass der Befreiungsprozess zu gefährlich sei. Und heilsam wäre es, den Einladungen der Freiheit zu folgen, der eigenen Vergangenheit, dem Schatten eigener Schuld zu begegnen und der eigenen Courage bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu trauen.
24 Auszug aus Joachim Gauck, »Von der Würde der Unterdrückten«, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.), Aktenkundig, Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 256–275.
Wut und Schmerz der Opfer
Der Artikel erschien im Januar 1995 in der Wochenzeitung »Die Zeit« 25
In der Diskussion, die sich jetzt auf den Begriff »Amnestie« konzentriert, wird häufig mit unscharfen Begriffen gearbeitet. Ein »Schlussstrich« erschien Marion Gräfin Dönhoff schon in ihrem »Versöhnungsmanifest« 1993 ( Die Zeit Nr. 37/93) als Weisheit, die sie den Deutschen anempfahl; auch jüngst verwies sie wieder auf Osteuropäer und Spanier, die keinerlei Aufarbeitung der Vergangenheit praktizierten. Ein »Schlussgesetz« forderte Egon Bahr, Manfred Stolpe arbeitet an einer breiten Koalition für eine »Generalamnestie«.
Vordergründig geht es um Verjährung, juristische Bewältigung, Amnestie. Dahinter verbirgt sich aber der generelle Wunsch, »Vergangenheit ruhen zu lassen«, als sei dies die beste Voraussetzung, die Zukunft zu bauen, den inneren Frieden zu erreichen.
Um es vorweg zu sagen: Ich bin nicht gegen eine Debatte über die Korrektur der Strafvorschriften für minderschwere Delikte. Aber der Vorschlag, alles bis auf schwere Menschenrechtsverletzungen zu amnestieren, erscheint mir als wenig hilfreich. Denn es sind durchaus nicht nur die Gefühle der Opfer, die einer Amnestie entgegenstehen können. Zu frühes und zu weitgehendes Amnestieren kann auch zu einer Art gesellschaftlicher Amnesie anstelle des Rechtsfriedens führen.
Inzwischen gibt es sehr viele Ermittlungsverfahren gegen Belastete aus der DDR, und die hohe Quote der Verfahrenseinstellungen wird als Erfahrungswert in die Amnestiedebatte eingebracht. Doch diese hohe Zahl der Verfahrenseinstellungen ist keineswegs ein zwingendes Sachargument zugunsten einer Amnestie. Denn der Bürger kann über die Ermittlungsverfahren erkennen, ob Taten, die er in der Vergangenheit für politisch verwerflich und unmoralisch hielt, auch strafrechtlich relevant waren. Wenn zahlreiche Verfahren eingestellt werden,
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