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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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so, wie ihn seine Mutter getröstet hat: »Wir sind ja noch minderjährig. Das bindet uns nicht.« Doch kurz vor dem Abi, Paul ist bereits achtzehn Jahre alt, kommt der Genosse Major vom Wehrkreiskommando noch einmal. »Na, meine Herren, wollen wir uns ein bisschen unterhalten?«
    Paul fällt nichts ein, wie er einen Rückzieher begründen könnte. Er ist auch erschreckend gesund – und so geht er drei Jahre.
    Er hat Glück, man gibt ihm nach der NVA ein anständiges Stipendium, er kann Medizin studieren.
    Einen Augenblick bleibe ich noch bei Paul. Wir treffen ihn nach einigen Jahren wieder, er hat studiert, eine gute Doktorarbeit abgeliefert, er ist junger Assistenzarzt an einer Universitätsklinik. Beobachten wir ihn bei einem Kadergespräch – im Westen heißt das Personalgespräch. Der Anlass ist erfreulich, der junge Doktor bekommt ein Angebot. Sein Vorgesetzter, der Institutsleiter und ehemalige Doktorvater: »Sie haben so eine wunderbare Doktorarbeit geschrieben. Forschen Sie mal weiter, habilitieren Sie sich mit dem Thema, und in sechs Jahren, wenn der Kollege X in Ruhestand geht, wartet eine Professur auf Sie!«
    Paul ist glücklich. Ein junger und ein alter Mediziner sind sich ganz nahegekommen. Das will er unbedingt seiner Frau erzählen. Es ist Mittagspause, Paul darf mal kurz nach Hause. Aber an der Tür wird er noch mal zurückgerufen. »Ach, junger Freund, ich vergaß noch eine Frage: Sind Sie eigentlich schon Mitglied in unserer Partei?«
    Ein Westmensch kann sich nicht vorstellen, dass in der Verfassung der Bundesrepublik steht: Die Sozialdemokratische (oder Christdemokratische) Partei Deutschlands ist die führende politische Kraft der Bundesrepublik Deutschland. Aber in dem Land, in dem wir lebten, war ein entsprechender Passus über die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ( SED ) enthalten. Paul war der Partei nie beigetreten und wusste sofort, was in einer solch kritischen Situation zu machen ist. Feindschaft darfst du nicht zeigen, Ablehnung auch nicht. Und so setzte er blitzschnell sein erprobtes DDR -Allerweltslächeln auf, schaute den Direktor des Instituts unschuldig an und bekannte: »Ach wissen Sie, Herr Professor, für diese wichtige Frage fühlte ich mich bisher noch nicht reif genug.«
    In diesem Moment war es vorbei mit der eben aufgeblühten Nähe zwischen Jung und Alt. Der Alte verabschiedet den jungen Doktor kühl. Er findet ihn unerträglich arrogant, bereut fast, ihm das Angebot zur Habilitation gemacht zu haben. Was soll er denn in der Parteiversammlung sagen, wenn sein Zögling kein Parteimitglied ist?
    Der junge Doktor hingegen geht nach Hause zu seiner jungen Gattin. Man hat ein bisschen Geld gespart, vor sieben Jahren einen höherwertigen Pkw Marke »Wartburg« bestellt. In sieben weiteren Jahren würde dieses Auto wahrscheinlich geliefert; man denkt schon an ein Eigenheim. Wenn er Professor wäre, käme Paul schneller dahin, diese schönen Dinge zu kaufen.
    Was hat Paul gemacht? Hat er klein beigegeben, zum Professor gesagt, ich war gestern verwirrt, wo ist der Antrag? Oder hat er dem Druck widerstanden und auf seine Professur verzichtet? Die Menschen, denen es gelungen ist, in den Westen zu gehen und dort ihre Karriere zu machen, hatten das Glück, diese Fragen nicht ständig mit sich schleppen zu müssen. Im Osten hingegen konnte man gehen, wohin man wollte, irgendwo waren diese Fragen immer nah, sogar bei den Künstlern. Das ganze Land war voller Pauls und Mariechens.
    Leben in der Doppelexistenz
    Normalerweise nennt man Bewohner eines politischen Gemeinwesens Bürger. Ein Bürger wird man dadurch, dass man Bürgerrechte hat und diese Bürgerrechte auch ausüben kann. Bürger nannte uns zwar der Volkspolizist, aber Bürger im Sinne von citoyen waren wir nicht. Was waren wir denn eigentlich? Früher habe ich immer gesagt, eine Untertanengesellschaft wie zu Großmutters Zeiten. Wir Mecklenburger hatten zwar keinen König wie die Sachsen, aber wir hatten immerhin einen Großherzog. Wenn Oma an die Zeit dachte, als ihre Eltern Untertanen waren, war das für sie gar nicht weiter belastend. Verglichen mit dem, was wir in der braunen und roten Diktatur erlebt haben, waren die Untertanengesellschaften der politischen Vormoderne tatsächlich oft weniger schlimm. Kein Königreich und auch kein Zarenreich waren so durchherrscht wie die Gesellschaft nach 1933 bis 1989.
    Wie nennen wir aber nun diese Bürger, die schon in der modernen Zeit leben, aber nicht in einer modernen

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