Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
die Situation von oben anschauen, dann würden wir sagen: Zwei Menschen verabreden sich gerade, dem Menschen, der ihnen am liebsten ist auf der ganzen Welt, nicht mehr das zu sagen, was sie wirklich denken.
Wir sehen, schon in der ersten Klasse kann uns eine Art pragmatischer Vernunft begegnen, die sich arrangiert, die nie die Zivilcourage anspornt, sondern immer der Anpassung dient. Kluge Leute haben formuliert, es gebe Situationen, da diene die Ratio der Unterwerfung. Selbst in unserem kleinen Beispiel sehen wir, wie nicht besondere Bosheit, sondern ein ganz nüchternes Kalkül dazu führt, dass einem kleinen Mädchen nicht mehr gesagt wird, wie es wirklich ist in der Welt.
So also sagt die Mutter kaum etwas, als Mariechen in der vierten Klasse begeistert ist von dem großen Kommunisten Ernst Thälmann, den die Faschisten umgebracht haben, und als sie Gruppenratssekretärin werden will. »Nun mal langsam«, sagt die Mutter, »versuch’s doch lieber erst mal mit Kassiererin oder Kultur.« Aber die Kleine ist ganz wild, sie will natürlich Chefin sein. Alle sollen sie bewundern. Dass sie dann nicht Gruppenratssekretärin wird, weil irgendwie dafür gesorgt wird, dass das ein Junge wird, der aus einem »besseren« Elternhaus kommt, wird sie erst später mitbekommen.
Dann kommt die achte Klasse, jetzt heißt es nicht mehr: »Seid bereit! Immer bereit«, jetzt heißt es: »Freundschaft!« Jetzt muss die Mama, als Marie kommt und sagt, wir werden jetzt FDJ ler, 41 schon nicht mehr viel sagen. Denn irgendwie kennt Marie jetzt Jugendliche, die ihr Platten gebracht haben mit ganz heißer Musik. Sie hört auch im Radio und im Fernsehen die Westtitel. Und sie hat eine Oma in Hamburg, die jedes Jahr wichtiger wird. Denn Oma ist die Lieferantin von Jeans, und Oma ist frech, die schmuggelt in der Unterwäsche die Bravo rüber. Und wenn Marie die Bravo liest und die Mama den Otto-Katalog , dann haben sie ein bisschen Rüstzeug gegen den tristen Alltag. Marie ist nun ziemlich gespalten.
Schon Ende der vierten Klasse war sie eine kleine Diplomatin geworden. Sie hatte begriffen, was man zu Hause und im Freundeskreis sagen kann, in der Schule aber besser verschweigt. In der achten Klasse hat sie einen perfekten »Doppelsprech« drauf. Sie weiß, wie man beim Pastor oder im Konfirmandenunterricht reden darf – falls man da überhaupt noch hingeht – und was man in der Staatsbürgerkunde oder auf der Gruppenversammlung sagen muss. Wenn man aufwächst in diesem Staat, dann weiß man, wie die Schule ist: Dass man aufsteht, wenn der Lehrer reinkommt. Dass einer vortritt und sagt, Herr Soundso, ich melde, Klasse 7b vollständig zum Chemieunterricht angetreten. Und dass man natürlich an jedem Montag vor Schulbeginn antritt zum Fahnenappell: Blaue Fahne des Jugendverbandes, Republikfahne, Rote Fahne, manchmal muss auch gesungen werden zum Entsetzen der älteren Schüler, nachher werden die Lieder vom Tonband abgespielt, von der Arbeitermacht, von der großen Sowjetunion, von Hans Beimler 42 und wie sie alle heißen. Die Hälfte der älteren Schüler lässt das über sich ergehen oder macht Witze. Die Kleinen sind brav und andächtig.
Militarisierung der Lebenswelt
Nun sind wir in der zehnten Klasse. Und jetzt wollen wir einen Aspekt hervorheben, der die ganze Zeit noch nicht erwähnt wurde. Seit dem Kindergarten sind die Schüler damit vertraut gemacht worden, dass da, wo wir wohnen, die Guten leben. Und dass die Guten sich schützen müssen. Der Friede muss bewaffnet sein. Deshalb haben wir schon in unserem Kindergarten Kriegsspielzeug, viele Soldaten, Panzer, Gewehre. Das muss man den Westmenschen heute ausdrücklich erzählen, die glauben das nämlich nicht, denn das gab es nicht in ihren Kindergärten. Aber wir wuchsen ganz früh mit Bummi auf, dem Heft für Vorschulkinder, in dem ein Soldat am Kasernentor abgebildet ist. »Spiele du nur«, sagt er dem Kind, »ich wache.«
Später wird es ein bisschen ernster. Erinnert sei an das »Manöver Schneeflocke«. Wir gehen in den Wald, es ist meistens Winter, wir werfen mit Schneebällen, es wird auch gemessen, wie weit wir werfen. Später verwandeln sich die Schneebälle in Schlagbälle oder auch handgranatenähnliche Gegenstände. Wenn man heute nach Schulerinnerungen fragt, kann man oft hören, es sei eigentlich ganz lustig gewesen. So ähnlich haben Oma und Opa aus der NS-Zeit erzählt. Vom Bund deutscher Mädel und von der Hitlerjugend. Von den Lagerfeuern und den Liedern und
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