Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
der Kameradschaft. Und wenn man ihn in Ruhe lässt, schaut sich auch der ehemalige DDR -Mensch seine Nostalgiefilme an mit Katharina Witt in Blauhemd oder in Pionierkluft. Das »Manöver Schneeflocke« ist aber nur der Anfang.
Ab der zehnten Klasse werden die Jungs vierzehn Tage vor den Sommerferien mit einer Uniform ausgestattet, sie erhalten Waffen – es sind noch Kleinkalibergewehre –, lernen exerzieren, schießen und werden auf die Rolle als Soldat vorbereitet. Unsere Mädchen bekommen einen kleidsamen Drillich und lernen, die Verwundeten zu versorgen. Die frühe DDR , als niemand mehr eine Waffe in die Hand nehmen sollte, ist längst vergessen, Pazifismus ist überholt.
Dann kommen die ernsthaften Übungen. Die Hälfte einer Kreisstadt kann abgesperrt werden bei einer Atomübung. Denn wir wissen ja, es gibt eine ständige Bedrohung. Um uns an die Gefahr zu erinnern, gehen jeden Mittwoch um ein Uhr im ganzen Land die Sirenen, von der größten Stadt bis zum kleinsten Dorf. Sie erinnern uns daran, dass wir Feinde haben, die bald mit ihren Flugzeugen über uns herfallen und den Sozialismus angreifen werden. Die Kapitalisten werden den Erfolg des Sozialismus, der sich unweigerlich auf der ganzen Welt fortsetzen wird, nicht dulden!
Und dann? Dann sucht man sich ein paar Menschen, auch ein paar Rentner, die werden weiß gekalkt, auf die Erde gelegt, und unsere Mädels müssen diese Opfer des heimtückischen Atomangriffs bergen. Übrigens sind sie darauf vorbereitet, denn im Lehrbuch zum Wehrunterricht gibt es genaue Anweisungen für einen Atomschlag. Also zum Beispiel sitzst du in der Klasse, wenn der Angriff erfolgt. Was machst du? Du stehst ganz schnell auf und legst dich unter die Fenster. Wenn du aber unterwegs bist, zum Beispiel im Trabant nach Berlin, und der Atomschlag kommt von vorne, hältst du an und duckst dich hinter das Lenkrad.
Was ich hier erzähle, klingt wie Kabarett, aber das denkt man ja manchmal, wenn man von damals erzählt. Leider war das völliger Ernst. Für einige dieser Ratschläge gab es sogar Abbildungen im Lehrbuch, das im Übrigen nicht mit nach Hause genommen werden durfte. Es verblieb in der Schule und wurde im Schrank eingeschlossen. Pastor Gauck, der ich damals war, hatte das Glück, es dennoch einmal zu sehen. Ein Junge aus meiner Jungen Gemeinde hatte es »hochgezogen«. Das entsprach zwar nicht den Zehn Geboten, war aber in diesem Fall eine lässliche Sünde; ich glaube, er hat es auch wieder mitgenommen. Dieses Buch hat viel zu meiner Aufklärung beigetragen, da ich nun wusste, was in den Schulen vorgeht, in die auch meine eigenen Kinder gingen.
Die Geschichte von Paul
Wir lassen jetzt das Fach Wehrkunde und wenden uns einmal dem Freund von Marie zu. Denn Marie ist in die Jahre gekommen und hat einen Freund. Er heißt Paul und mag das Lernen nicht. Doch wie es so ist in diesen Schulen, ab der siebten Klasse kommt regelmäßig, einmal im Jahr mindestens, ein Major vom Wehrkreiskommando.
Die Schüler sind jetzt dreizehn, vierzehn oder noch älter, also in einem Alter, in dem man nicht mehr so reagiert wie die kleine Marie in der ersten und vierten Klasse. Sie denken an alle möglichen Musikbands, aber weniger an das Abitur und an die anschließende Wehrpflicht. Das findet der Major nicht gut; er betont, wie dankbar sie dem Arbeiter-und-Bauern-Staat zu sein hätten, wenn er sie auf die Erweiterte Oberschule schicke, und drängt sie dazu, nach dem Abitur statt der obligatorischen achtzehnmonatigen Wehrpflicht mindestens drei Jahre in der Nationalen Volksarmee ( NVA ) zu dienen.
Nun, was macht man in dem Fall? Man kratzt sich am Kopf und sagt, ich muss das erst einmal mit den Eltern besprechen.
Pauls Vater ist Arzt, und er möchte, dass auch sein Sohn Arzt wird. »Wir sollen unterschreiben, dass wir drei, besser zehn oder am liebsten fünfundzwanzig Jahre in die Armee gehen nach dem Abi«, sagt Paul im Elternhaus, »aber ich mache das auf keinen Fall!« Der Vater hat allerdings eine Frage: »Sag mal, mein Lieber, wie ist eigentlich dein Leistungsdurchschnitt?« Da kommt heraus: Paul hat einen Notendurchschnitt von 2,8. Also 2,8 und Medizin studieren, das geht nicht. Für den Vater ist die Sache klar: »Morgen gehst du hin und unterschreibst!«
Als Paul unterschrieben hat, sind seine Freunde Peter und Frank schlecht dran. Denn wenn sie nicht unterschreiben, was dann? Sie stehen auch nur 2,3 und 2,4 und wollen auch studieren. Also unterschreiben auch sie. Paul tröstet sie
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