Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Notwendigkeit« oder »entschlossenem Eintreten für den Fortschritt«. Und in dem Maße, in dem jemand den jeweils als »Fortschritt« ausgegebenen politischen Leitduktus nachvollzieht, wird er berücksichtigt. So wird das ganze Land durchzogen von Verhaltensweisen der Anpassung. Wie Mehltau liegt sie über dem Land. Wir könnten von einem Angst-Anpassungs-Syndrom sprechen.
Diktatur kann offensichtlich auch überleben, wenn die in ihr Wohnenden das unerlässliche Maß an Loyalität ohne echte Überzeugung anbieten. Ein eigenartiger Zustand: Obwohl sehr viele Menschen durchaus einen »eigenen Kopf« haben, ist durch die Gewöhnung an ihre Ohnmacht und durch den praktizierten Gehorsam ein System entstanden, in dem Teilhabe nur existiert um den Preis des Verzichts auf die eigene Autonomie, das eigene Gewissen, die eigene Entscheidungsfreiheit.
Mentalitätsunterschiede
Im Osten musste man sich, um erfolgreich zu sein, um Gehorsam und Anpassungsbereitschaft bemühen. Im Westen musste man Durchsetzungsfähigkeit, ein starkes Ich, einen starken Willen entwickeln und debattieren lernen, um in einer Partei oder Gruppe mehrheitsfähig zu werden. Und so klafft zwischen beiden Bevölkerungsteilen bis heute ein Mentalitätsunterschied. Das ist keine Abwertung der Ostdeutschen, sondern eine Beschreibung der minderen Chancen, die die Bewohner der DDR hatten. Wir müssen sie eigentlich an unser Herz drücken und ihnen helfen, sich zu ermächtigen und zu ermutigen.
Es sind noch nicht gleich Demokraten da, sondern es sind ehemalige Leibeigene, die es lernen, Bürger zu sein. Learning by doing , im Vollzug des Tuns. Bürger sein ist wie Fußballspielen! Du musst raus auf den Platz, du musst spielen, laufen, Taktik erlernen und mit dem Ball trainieren, dann kannst du bald Fußball spielen. Bürger sein kommt vom Ausfüllen der Rolle eines Bürgers und nicht vom Zuschauen. Deshalb leben wir in den neuen Bundesländern in einer Übergangsgesellschaft.
Nach dem Krieg hat es viele Jahre gedauert, bis die Menschen in Westdeutschland stärker an das Neue gebunden waren als an das Alte und bis sie eine neue demokratische Kultur erlernten. Dabei existierte die Nazidiktatur nur zwölf Jahre. Wie lange werden wir Ostdeutschen dann wohl brauchen, wo die Diktatur zwölf plus vierundvierzig Jahre gedauert hat? Fast ein ganzes Menschenleben?
Die Fähigkeit, Bürger zu sein
Auch von den Westdeutschen wissen viele nicht, was ein Bürger ist. Die Freiheit, die sie schon so lange haben, können viele von ihnen nicht mehr achten. Sie gehen nicht wählen, erklären die Politiker alle für korrupt, betrügen selbst aber die Steuer nach Strich und Faden. Es gibt zwei Möglichkeiten: Sie sind entweder Konsumenten oder Zuschauer. Ich habe nichts gegen Konsum, ich finde es auch besser, dass die Läden voll sind und nicht leer. Doch es gibt außer dem Konsum noch etwas anderes im öffentlichen Leben. Viele haben aber kein Interesse daran, sich als Bürger zu verstehen und sich zu engagieren. Spaßgesellschaft nennen einige das. Und wir sehen: Nicht nur Diktatoren binden uns, man kann sich auch selber Ketten anlegen. Einige der Ketten sind aus Handtaschenriemen geflochten, andere sind aus Gold – der Effekt ist ähnlich, und zwar so, dass sich die Demokratie selber verlieren kann. Nicht nur Diktatoren sind Feinde der Demokratie, sondern auch wir selber. Die Freiheit geht in Deutschland im Bettelkleid.
Wir haben in den letzten Jahren Wunderbares in Deutschland gesehen. Im Westen ist eine Zivilgesellschaft gewachsen – sechzig Jahre ohne Krieg, mit Bürgerrechten und Menschenrechten. Das hat die deutsche Nation in ihrer Geschichte noch nie erlebt. Im Osten haben sich die Bürger die Freiheit nicht auf dem Tablett servieren lassen, sondern sie für sich erkämpft.
Wo sind eigentlich der Stolz und die Dankbarkeit für diese Entwicklung der jüngsten deutschen Geschichte?
40 Auszug aus Joachim Gauck, »Von Staatsinsassen und Einäugigen – Beobachtungen in einer Übergangsgesellschaft«, in: Jürgen Weber (Hg.), Illusionen, Realitäten, Erfolge. Zwischenbilanz zur Deutschen Einheit, München 2006, S. 27–55.
41 Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) war die Jugendorganisation der DDR.
42 Hans Beimler (1895–1936) kämpfte als politischer Kommissar des Thälmann-Bataillons im Spanischen Bürgerkrieg gegen General Franco.
Wann wird all das weichen?
Laudatio auf Herta Müller
Weimar, 16. Mai 2004, anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der
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