Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Politikwelt? Wie müssen wir die Paulchens und Mariechens als Erwachsene nennen?
Ich habe sie einmal, um einen neutralen Begriff zu verwenden, Staatsbewohner genannt. Bis mir der fatale Fehler dieses Begriffs aufging. Der Bewohner eines Hauses kann in dasselbe hinein- und wieder aus ihm hinausgehen. Er kann nicht nur aus dem Fenster schauen, sondern er kann auch die Tür aufmachen und das Haus verlassen. Das aber konnte ich als DDR -Bürger nicht. Was war ich aber dann, wenn ich kein Bewohner war? Schließlich kam ich darauf: Ich war ein Insasse. Ein Staatsinsasse.
Das hören meine Landsleute im Osten gar nicht gerne, denn sie verstehen darunter eine persönliche Denunzierung. Sie wollen, auch wenn sie keine Anhänger der SED waren, nicht delegitimiert sehen, was sie gelebt haben. Leute wie ich, die das so scharf sagen, gehören zu einer Minderheit. Doch das, was wir miteinander kollektiv erlebt haben, waren Geschichten von Menschen, die ihr ganzes Leben nicht das Recht hatten, ihre Regierung zu wählen, ihr Land zu verlassen, ihr Land zu verändern, einen Verein zu gründen, eine Partei, eine Zeitung nach ihrem Gusto. Was die Generation meiner Urgroßeltern in den Niederlanden schon durfte, war mir im 20. Jahrhundert versagt.
Nun kann man nicht ständig in einem Land leben und sagen, ich bin ein Sklave, ich bin ein Untertan, ich bin ein Staatsinsasse. Vielmehr fördert das Land die Doppelexistenz eines eher gefühllosen Menschen, der so tut, als sei dies ganz normal und tue ihm nicht weh. Nur wenn jemand zu Besuch kommt, dem er vertraut, oder wenn er betrunken ist, dann bemerkt er, dass es ihn drückt. Um diese Bedrückung nicht zu spüren, kann man das Psychopharmakon Faustan nehmen. Alkohol hilft noch mehr, auch Sex lenkt ab. Sex war sehr beliebt in der DDR . So gab es eine Nebenkultur, die sich die Nischen hübsch ausbaute. Der eine hatte in der Dübener Heide ein reizendes kleines Unterkommen, der andere an der Ostsee, oder er kannte jemanden an der Ostsee, bei dem man im Ziegenstall wohnen konnte. Ein anderer hatte einen Bekannten in Ungarn, da traf er seine Westler. Ohne die Westler hätte er entweder nur leben oder nur essen oder nur reisen können – wir durften ja nur eine bestimmte Menge Geld umtauschen –, mit Westlern konnte er alles.
Unsere westlichen Besucher und Freunde redeten uns angesichts dieser Zustände noch gut zu. Das habe ich in meiner evangelischen Kirche oft erlebt. Viele von den evangelischen Pastoren im Westen gehörten zu einer Gruppe, die der Schriftsteller Ralph Giordano die »Internationale der Einäugigen« nannte. Die sehen immer, was von rechts oder von den Konservativen an Übel über die Welt kommt, doch das, was von links kommt, haben sie selten bemerkt. Nach dem Essen auf einer großen Tagung in Ost-Berlin belehrte beispielsweise ein bayerischer Theologe eine kleine Clique von uns: Ich sehe, es ist nicht toll, was ihr hier mit dem Honecker durchmachen müsst. Aber wir haben den Franz Josef Strauß. Stellt euch vor, was wir mit dem durchmachen müssen! Natürlich musste man Strauß nicht mögen, ich mochte ihn auch nicht. Aber war er nicht ein frei gewählter Ministerpräsident in einem demokratischen Gemeinwesen? Ein Hamburger Theologe riet mir auf derselben Tagung: Schimpft doch nicht so auf den Sozialismus, ganz Afrika wartet doch schon darauf!
Dann verschwanden unsere Kollegen nach Hamburg und Bayern und ließen uns mit unserem Sozialismus alleine.
»Gezinktes« Erinnern
Es gibt drei Gruppen von Leuten für den Normal-Ossi: Der beste und normalste ist der, der schon immer im Osten war und hier geblieben ist. Der Zweitbeste ist der Original-Wessi. Er ist dumm, aber er kann nichts dafür. Der Schlechteste ist der Ossi, der weggegangen ist, seiner Freiheit wegen, und nach 1989 zurückkommt. Das ist der problematische Typ, der kein Recht hat mitzureden, denn er weiß ja gar nicht, wie es gewesen ist. Mag er auch acht Jahre in Bautzen oder fünf Jahre in Brandenburg gesessen haben.
Selbstverständlich wollen wir die DDR nicht wieder haben. Aber wie bereits gesagt: »Es war auch nicht alles schlecht im Sozialismus«. Das musste ich mir sogar von meinem antikommunistischen Vater anhören, der fünf Jahre in einem sowjetischen Lager gesessen hatte! Es gab keine Arbeitslosigkeit, eine alte Frau konnte abends mit der Handtasche über die Straße gehen, und überhaupt »das Soziale«. Da wurde ich natürlich hellhörig.
»Was meinst du genau? Omas Rente? Zweihundert Ostmark,
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