Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
all die Zeit ihres Lebens.« Nein, das meinte er eigentlich nicht.
»Meinst du, wie der Arbeiter-und-Bauern-Staat mit unseren Behinderten umgegangen ist?« Nein, das meinte er auch nicht.
»Ja, was meinst du denn?«
»Na irgendwie fühlten wir uns anders! Wie wir zusammengehalten haben!«
Und dann erzähle ich ihm von Frau B. aus Rostock. Das war eine Frau, die ich bei einer Beerdigung kennengelernt hatte. Sie verkaufte Autoreifen. Man musste auf Autoreifen in der DDR zwar nicht vierzehn Jahre warten wie auf ein Auto, aber schon gerne mal vierzehn Monate. Es war für einen Normalbürger also überaus nützlich, eine Frau zu kennen, die Autoreifen verkaufte. Bei einer Tasse Kaffee erzählte sie mir, arbeiten müsste sie nicht, ihr Mann verdiene genug Geld, aber ganz Rostock sei voller Freunde. Sie bekam zum Beispiel Aale. Ich hatte Aale bei einer Besuchsreise im Westen in einem Aquarium des KaDeWe in West-Berlin gesehen, aber in meiner Heimatstadt wurden sie mir seit vielen Jahren nicht mehr angeboten. Sie bekam auch verchromte Wasserhähne. Das übertraf den Aal noch. Sie bekam natürlich auch Fliesen für ihr Bad – mein Bad war einfach weiß angestrichen. Und sie kannte die Blumenfrau – Blumen waren zu einer Zeit in der DDR ebenfalls Mangelware. Sie kannte auch die Verkäuferin in unserer Feinkostladenkette Delikat , wo es Dosen mit Ananasstücken gab. Ich glaube, neun Mark kosteten die. Oder die Verkäuferin im Exquisit -Laden. Dort gab es die Pullover, die im sächsischen Oberlungwitz gewirkt wurden. Drüben bei C&A kosteten sie 28,40 DM. Aber bei uns im Arbeiter-und-Bauern-Staat kosteten sie 228,40 Mark, das halbe Monatsgehalt einer Krankenschwester. Das war natürlich nützlich, solche Leute zu kennen. Die ganze Stadt Rostock war ein Netzwerk der Freundschaft für Frau B.
Mein Vater war natürlich schlau genug, um zu merken, warum ich ihm von Frau B. erzähle. »Also du meinst, unser soziales Netzwerk war so groß, weil wir Beziehungen brauchten?« Man musste es immerhin mal bedenken. Ich ließ nicht locker. War nicht vielleicht diese Solidarität der Menschen, die es ja tatsächlich gab, auch eine Gegenstrategie gegen die Mangelwirtschaft und das Zu-kurz-gehalten-Werden durch die Staatsmacht? Hatte es vielleicht weniger mit Sozialismus als mit Hilfsbereitschaft unter Nachbarn oder auch Nützlichkeitserwägungen zu tun?
Angenehm waren meinem Vater diese Schlussfolgerungen nicht. Und ich merkte, sobald ich weg war, würde er wieder zurückfallen in sein altes Spruchgut.
Vielleicht redet Frau B. heute genauso wie er. Wenn man heute an jeder Tankstelle Reifen kaufen kann, braucht man Frau B. nämlich nicht mehr. Und wenn man sie anspräche, würde sie vielleicht sagen: »Was für eine Ellenbogengesellschaft!« Über die Ellenbogengesellschaft reden heute besonders die, die früher oben oder irgendwie privilegiert waren. Als sie in der DDR selbst ihre Ellenbogen eingesetzt haben, war von einer unbarmherzigen Gesellschaft nicht die Rede.
Wenn ich heute unter meinen Ossis Klagen gegen »die Ellenbogengesellschaft« höre, dann sage ich: »Klar, es gibt im Westen solche Menschen, die haben Hornhaut auf den Ellenbogen, das ist widerlich, das kommt vor. Aber ich rede erst dann mit euch weiter über die Hornhaut auf den Ellenbogen der Wessis, wenn ihr vorher eure Knie geprüft habt, ob sich nicht auch dort Hornhaut befindet.« Denn die Ellenbogengesellschaft, die wir in der DDR hatten, war eine Gesellschaft, in der man nur durch Gehorsam weiter und durch forcierten Gehorsam nach oben kam – wenn man sich hinkniete.
Das Anpassungssyndrom
Was ich bislang anhand von Beispielen darzustellen versucht habe, möchte ich noch einmal ins Grundsätzliche wenden. Gab es denn in diesem Land, in dem wir lebten, in dem Land der Staatsinsassen, überhaupt keine Partizipation, keine Mitbeteiligung der Bürger an den Staatsdingen, an den Herrschaftsdingen? Ja, es gab sie. Doch nicht wie in den Demokratien als Einladung an die breite Bevölkerung, sich über Parteien und Interessengruppen von Etage zu Etage auf der Mitwirkungsebene zu bewegen. Sie wurde vielmehr gehandhabt wie in vordemokratischen Zeiten, zum Beispiel in den alten, vormodernen Adelsgesellschaften. Der Lehnsherr belehnte den Untertan, der ihm dafür Gehorsam versprach: Teilhabe und Aufstieg durch Demut und Gehorsam.
In den modernen Diktaturen haben wir eine andere Begrifflichkeit. Die Rede ist nicht mehr von Demut und Gehorsam, sondern von »Einsicht in die
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