Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
Konrad-Adenauer-Stiftung 43
    Manchmal, wenn wir mit dem Leben im Bett liegen und nicht aufwachen möchten, denn wir sind jung und lebenssüchtig, und es ist Frühling in Nitzkydorf wie sonst auf der Erde, manchmal dann, wenn es tagt, ist uns das Leben ein Nachtleben, so als würden die nächtlichen Albträume den hellen Tag trüben. Etwa wie in den dunklen Goyas, jenen Bildern des Meisters, die nicht hell sein können, weil die menschliche Kreatur gemartert, vergewaltigt, getötet wird.
    Bevor ich eine Zeile über Herta Müller schreiben konnte, stellte meine Seele diese Bilder aus einem anderen Jahrhundert neben die sehr gegenwärtige Autorin. Und gleich daneben stellte sich ein anderes Dunkel, das eines Dichters, auch aus einer anderen Zeit.
    Denn diese Nacht, in der so vieles schrie,
    in der sich Tiere rufen und zerreißen,
    ist sie uns nicht entsetzlich fremd? Und wie:
    was draußen langsam anhebt, Tag geheißen,
    ist das uns denn verständlicher als sie?
    So schreibt Rainer Maria Rilke im »Östlichen Taglied«. In der ersten Strophe beginnt die Szene im Bett – »hohe Brüste« erzeugen entsprechende Gefühle. Und dann der eben gehörte Vers. Und so endet das Gedicht:
    Doch während wir uns aneinander drücken,
    um nicht zu sehen, wie es ringsum naht,
    kann es aus dir, kann es aus mir sich zücken:
    denn unsre Seelen leben von Verrat.
    Im »Östlichen Taglied« sind lange vor der Existenz eines Ostens – wie Herta Müller ihn erlebt und beschreibt – Leben, Liebe und Verrat so miteinander verwoben und verwachsen, dass wir es gar nicht hören möchten. Die Schönheit der Sprache und der Vers sind das einzig Tröstende. Sie legen sich um eine verdammte Wirklichkeit – so als zöge man einer Todgeweihten noch einmal ihr schönes Brautkleid von einst an.
    Merkwürdig, dass ich auf Rilke komme bei einer Laudatio auf Herta Müller, ähnlich wie auf die dunklen Bilder Goyas. Ich liebe und fürchte auch seine vierundzwanzig Wörter aus dem Schlussstück , die zu einem so einfachen wie magischen Wort werden, über das Leben. Manchmal wünsche ich mir, dem Gedicht nie begegnet zu sein. Aber die Begegnung hat stattgefunden, und nun muss ich aushalten, dass ich seine Wahrheit und Schönheit nur haben kann, wenn ich diese Mischung aus Furcht und Liebe ertrage.
    Der Tod ist groß.
    Wir sind die Seinen
    Lachenden Munds.
    Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
    wagt er zu weinen
    mitten in uns.
    Ich weiß nicht, wie nah die Bilder Goyas und diese Gedichte der Seele unserer Preisträgerin sind.
    Aber ich wollte Ihnen, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, ich wollte vor allem dir, liebe Herta, ein Leitmotiv dieser Laudatio sagen, das aus meiner Seele stammt, anstatt zu referieren, was ich bei gelehrten Germanisten und Literaturfachleuten gelesen habe. Sie spüren es schon, nicht das Aufzählen von Lebensstationen und Büchern der Autorin ist beabsichtigt. Vielmehr begegnet ein Zeitgenosse einer Zeitgenossin. Bei beiden hat das Dunkel des Ostens wesentliche Prägemale hinterlassen.
    Wir ehren heute eine Vielgeehrte. Neben dem Kleistpreis sind ihr zahlreiche literarische Auszeichnungen zuteil geworden. Wir ehren Herta Müller nicht in erster Linie wegen ihres Mutes, sondern wegen der literarischen Qualität ihres bisherigen Schaffens. In ihren Romanen, in ihren Essays und Interviews, in ihren Debattenbeiträgen begegnen uns starke Literatur und ein starker Mensch.
    An prominenten Stellen taucht bei Herta Müller der Satz auf: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, (…) wenn wir reden, werden wir lächerlich.«
    Das Erste also ist unser Dank dafür, dass Herta Müller nicht geschwiegen hat oder verstummt ist. Selbstverständlich war das nicht!
    Das Kind wächst auf mit Vater und Mutter. Es ist auf dem Lande – und im Banat. Also auch in Rumänien, einer Spezialdiktatur. Schöne Welt in schlechter Zeit.
    So sieht dann eine Erwachsene das Kind, aus dem sie herauswuchs:
    Ein Vater hackt den Sommer im Garten. Ein Kind steht neben dem Beet und denkt sich: Der Vater weiß vom Leben. Denn der Vater steckt sein schlechtes Gewissen in die dümmsten Pflanzen und hackt sie ab. Kurz davor hat das Kind sich gewünscht, daß die dümmsten Pflanzen vor der Hacke fliehen und den Sommer überleben. Doch sie können nicht fliehen, weil sie erst im Herbst weiße Federn bekommen. Erst dann lernen sie fliegen.
    Der Vater mußte nie fliehen. Er war singend in die Welt marschiert. Er hatte in der Welt Friedhöfe gemacht und die Orte schnell

Weitere Kostenlose Bücher