Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
beim Lesen, dass dem komplizierten Geflecht von persönlichen Lebensläufen, Herrschaftsmustern, Flucht- oder Überlebensstrategien mit einer kunstvoll einfachen Sprache die eigentliche Botschaft abgerungen wird. Wenn die Dichterin mich dann so gefangen hat, geschieht es, dass ich ihr glaube und folge. In den Hass und den Zorn, der die mächtigen Meister des Tötens straft; in das Erstaunen über die Größe der Angst, deren so schwarze wie offensichtliche Magie unsere Zeit geprägt hat, vor allem aber in die Liebe zur Freiheit – ganz gleich, ob man sich dadurch unter den Deutschen verdächtig macht oder nicht.
Herta Müller hat dem Dunkel des Ostens viele Melodien abgelauscht. Die dissonanten fallen uns schwer auf die Seele, weil sie an das Geräusch der Ketten erinnern, die uns gebunden hatten. Aber die unterschiedlichen Melodien ergeben doch ein Ganzes, dessen Botschaft klar ist wie die eines Hymnus. Die Totenklage über die Zerstörten beschwört das Lebensrecht und die Würde aller Bedrohten. Ohnmacht ist wandelbar und – Freiheit kann und wird in Seelen wie Länder Einzug halten.
Herta Müller wohnt in Berlin sehr nah, in einem Stadtteil, der an meinen grenzt. Sehr selten sehen wir uns, obwohl keine Grenze uns trennt. Ich könnte öfter hingehen – wollte ich noch mehr wissen darüber, was sie weiß. Ich gehe nicht – mir reicht, was ich weiß. Wo ich herkomme, war sechsundfünfzig Jahre lang Diktatur. Ihre Schatten liegen noch schwer über dem Land. Manchmal reichen sie in meine eigene Seele. Ich mag das nicht, ich will frei sein.
Näher noch als die Autorin wohnen ihre Bücher bei mir. Jeden Tag gehe ich daran vorbei, selten schlage ich sie auf – obwohl ich Ja sagte, Ja, Ja! als ich sie las. Aber ich will nicht schon wieder die Schatten sehen, die Angst spüren und zu alledem noch wissen, dass das, was mir Schatten, an anderen Orten noch Leben ist und Bedrohung.
Aber wenn ich dann doch ein Buch aufschlage und das poetische Wort die wirkliche Wahrheit bannt, rücken mein Herz und mein Verstand einander näher – Furcht und Liebe begleiten diesen Vorgang.
In dem Kapitel »Gesicht ohne Gesicht« von Herta Müllers Roman Der Fuchs war immer schon der Jäger (1992) heißt es:
Das Tonbandgerät läuft. Aus dem Lautsprecher auf dem Schreibtisch sagt eine tiefe Stimme, also KASCHOLI , wie liest man das. KARACZOLNY ; sagt eine leise Stimme. (…) Vorname, sagt die tiefe Stimme. ALBERT , sagt die leise Stimme. Und ABI , fragt die tiefe Stimme. Die leise Stimme sagt, meine Freunde nennen mich so. Und dein Vater, sagt die tiefe Stimme. Er hat mich auch ABI genannt, er lebt nicht mehr, sagt die leise Stimme. Und die tiefe Stimme wird wie die leise Stimme und sagt, ach so. Wann ist er gestorben? Und die leise Stimme wird wie die tiefe Stimme und sagt, das wissen Sie genau. Die tiefe Stimme fragt, wieso. Und die leise Stimme sagt, weil Sie fragen. Umgekehrt, sagt die tiefe Stimme, was wir wissen, das fragen wir nicht. Ein Feuerzeug klickt im Lautsprecher. Damals war ich noch im Kindergarten, sagt die tiefe Stimme, wie Sie. Ihr Vater hieß auch ALBERT , wie Sie. Können Sie sich an Ihren Vater noch erinnern? Nein, sagt die leise Stimme. Sie haben gesagt, Ihr Vater hat Sie ABI genannt, sagt die tiefe Stimme, und danach haben Sie gesagt, Sie können sich nicht mehr an ihn erinnern. Das ist ein Widerspruch. Das ist kein Widerspruch, sagt die leise Stimme, meine Mutter nennt mich ABI . Was wollen Sie von mir.
(…)
Das ist kein Widerspruch, denkt Abi, daß dieses Fenster draußen auf der nassen Straße nur ein Fenster ist. Daß jeder Tag und jede Nacht und die Welt sich teilt in solche, die horchen und quälen, und solche, die schweigen und schweigen. Und ein Widerspruch ist es, wenn ein Kind im Sommer, vor der durchrosteten Badewanne, in der Geranien wachsen, neben dem Bienenhaus, im Hof seine Mutter nach dem Vater fragt. Wenn die Mutter den Arm des Kindes hochhebt, dann seine Hand in ihre nimmt und die Finger an der kleinen Hand biegt und den Zeigefinger streckt und nach oben hebt. Wenn sie ihre Hand zurückzieht und sagt: siehst du, da oben. Und wenn das Kind nur kurz den Kopf hebt und nur Himmel sieht, und die Mutter auf die Geranien in der Badewanne schaut. Wenn das Kind den ausgestreckten Zeigefinger in die engen Schlitze des Bienenhauses steckt, bis die Mutter sagt, geh weg, du weckst die Königin. Wenn das Kind fragt, warum schläft die Königin, bis die Mutter sagt, weil sie so müde ist. Das ist ein
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