Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Bürger eine Residenz zu errichten. Nicht nur die große Lebensangst wird gebraucht, auch die kleineren Ängste, Furcht vor Not, Abstieg, Isolation, die Sorge um das zum Leben Notwendige – alles wird gebraucht, um die Menschen in der Ohnmacht zu halten. Sie müssen sich fürchten, um zu gehorchen. Wenn die Armee der Angstbereiter groß und differenziert genug ist, muss der König nicht jeden Tag töten – nur wenige der Angstboten sind Henker; viele sind einfach nur Ordnungshüter als Polizisten oder Geheimpolizisten. Sie haben als Lehnsmänner dessen, der tötet, das Recht, den Tod portionsweise unter die Lebenden zu tragen. Sie beseitigen Feinde, Ungeziefer, Unrat seltener, indem sie töten oder körperliche Folter anwenden (auch wenn sie beides können und trainieren). Sie bringen die Angst wie eine Vorspeise oder eine Ouvertüre. Ist der nächste Gang gefällig?
Häufig »erziehen« sie nur. Dazu müssen sie wissen, wie die Menschen sind. Dieses Wissen muss erlangt, aufgeschrieben und archiviert werden. Die das tun, sind eher ganz normale Männer und Frauen, die sich die Finger nicht blutig machen müssen. Sie müssen nur tun, was »von oben« verlangt wird, zum Beispiel sehen, horchen, melden. Aber Boten und Bedienstete des Prinzips Angst sind dann noch effizienter, wenn sie nicht als Geheimdienstler auftreten.
Wenn zum Beispiel die vielen Lehrer eines Landes nichts weiter tun, als nur das Wissen zu begrenzen, die Gewissen zu manipulieren und den Gehorsam einzuüben, haben sie bedeutende Schlachten für den blutigen König geschlagen. Wer in den Zwangskollektiven sein Ich weitgehend verloren hat, wer so die eigene Ohnmacht für normal und unveränderlich hält, dem braucht man geheimpolizeiliche Zwangsmittel nicht mehr anzutun – er funktioniert, wie »von oben« gewünscht. Den anderen widerfährt, was die früher Genannten können. Wie lange erträgt ein Mensch es, ausgespäht, isoliert, gejagt, verunsichert und zersetzt zu werden? Bis er flieht, sich tötet, sich in den Alkohol verliert oder – eine eher seltene Variante – Widerstand übt. Meistens nicht lange – der häufigste Ausweg ist die Anpassung, erst ein wenig, später mehr, oftmals total.
Wenn in der Lebenswelt, über die wir sprachen, dann auch die Richter des Landes nicht Recht schaffen können, so also ihrerseits Boten der Angst sind, wenn die Gelehrten des Landes nur so viel lehren, wie »von oben« für richtig gehalten wird, die Philosophen das »Prinzip Hoffnung« in das Prinzip Anpassung verwandeln, wenn die Dichter das Ungereimte reimen und dafür belohnt werden, die Musiker und Maler dem Schönen huldigen, während der Schrecken zum Himmel schreit, wenn so die schöne neue Welt der Diktatoren von oben bis unten von »Ordnung« durchzogen ist, und wenn das alles seit Jahrzehnten so ist, dann, bevor die Steine schreien, geschehen gelegentlich Wunder.
So geschehen, wenn der Ordnung die zersetzenden kindlichen Fragen gestellt werden, wenn ein naives Sehen und Nennen der Wirklichkeit gewagt wird. Wenn die Sehnsucht nach Freiheit Menschen zusammenbringt, die sich helfen, ihre Individualität zu wahren, sich beistehen. Wenn Worte der Wahrheit gesucht und aufgeschrieben werden, auch wenn die »da oben« nichts davon je drucken werden.
Wenn die Boten der Angst, die als Verräter den Kollegen, Freund, Liebsten im engsten Lebenskreis ausspionieren, auch scheitern, weil in den Verratenen schon Selbstvertrauen, Kraft und Mut gewachsen sind, dann ist ein Wunder geschehen. Und ein Wunder ist geschehen, wenn ein Landkind aus einfachen Verhältnissen – es gab kein Buch in ihrem Elternhaus, und »das Schreiben von Büchern war gefährlicher als eine Krankheit« (»Einmal anfassen – zweimal loslassen«, in: Der König verneigt sich und tötet , 2003) –, wenn ein solches Menschenkind einer schlimmen Gegenwart und einer noch schlimmeren Vergangenheit Überlebenswillen und Überlebensworte abgewinnt. Und wenn dabei eine Poesie wird, die die Wirklichkeit nicht ausschließen oder umfärben muss.
Repression erzeugt bei denen, die nicht unterworfen werden, sehr oft Trotz, Verbitterung und neurotische Fixierung auf das Trauma. Bei Herta Müller haben manche Kritiker Derartiges auch ausgemacht. Aber was ich am deutlichsten sehe, ist Kraft . Ein imaginativer Realismus findet eine neue Sprache, in der sich Wörter der Unterklasse, Dorfsprache, Heimatsprache für Blume, Tier, Lebenssituation und artifizielle Hochsprache mischen. Manchmal erlebe ich
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