Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
es Menschen aus unserer Nähe.
Nach den Großmeistern des Bösen kommen die Technokraten der Macht, der mittlere Apparat, und zuletzt in der Aktionskette die, die das Mörderhandwerk tatsächlich betreiben. Das sind keineswegs nur brutale SS-Typen, die man aus einigen Filmen kennt, sondern mitunter ganz einfache Wehrmachtsangehörige und Hilfspolizisten – »ganz normale Männer«, um einen berühmten Buchtitel des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning zu zitieren. 45
Christopher Brownings Ausführungen, die mich sehr berührt haben, beziehen sich auf den 13. Juli 1942 – jenen Kriegstag im besetzten Polen, an dem Bataillonschef Major Trapp den fünfhundert Männern seines Reservepolizeibataillons 101 aus Hamburg den Auftrag zur Deportation und Ermordung der Juden aus der Stadt Józefów erteilt. Erwachsene männliche Juden sollen deportiert, Frauen und Kinder sowie Alte erschossen werden. Und obwohl Major Trapp den Männern zusichert, wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle, werde davon entbunden, treten nicht einmal zwölf Männer vor. Nicht einmal zwölf von knapp fünfhundert! Und ganz merkwürdig: Niemand von denen, die sich nach dem Krieg vor dem Hamburger Landgericht verantworten müssen, kann sich erinnern, jemals vor dieser Wahl gestanden zu haben. Gäbe es nicht die Personen, die sich geweigert hatten – sie haben übrigens alle überlebt, keiner von ihnen ist bestraft worden –, würden wir als Nachgeborene vermutlich alle meinen: Verweigerung war undenkbar, an der Front galt unbedingter Gehorsam.
Es ist richtig, dass wir nicht immer jede Wahl haben; aber häufiger, als wir denken, können wir zwischen besser und schlechter wählen. Es ist nicht sicher, dass wir das Unrecht insgesamt aus dieser Welt schaffen können; das ist sogar sehr unwahrscheinlich. Aber es ist ziemlich sicher, dass, würden wir unsere Fähigkeit wahrnehmen, das Gute oder das Bessere zu wählen, diese Welt humaner und lebenswerter wäre und wir einige Opfer weniger auf der Erde hätten.
Es hat weitreichende Folgen, wenn wir den Tätern auf unteren Ebenen ein Gesicht geben. Denn wir begreifen, dass Totalitarismus, dass das Böse überhaupt sehr nahe bei uns wohnen, dass es unter dem eigenen Dach vorkommen kann.
Wenn beispielsweise ein Dorflehrer sich aufmacht und die alten Zeitungen aufschlägt, um eine Dorfchronik zu schreiben, dann sieht er, dass Bauer Meier sen. der Ortsbauernführer war, der Vater respektive Großvater des jetzigen Bauern Meier, seines Nachbarn. Und wenn der Dorfchronist weiter gute Nachbarschaft halten und im Dorf gut angesehen sein will, wird er sich fragen, ob er den Namen »Meier« mit Funktion in die Dorfgeschichte hineinschreibt oder ob er es lieber sein lässt.
Wenn Sie in die Kreisstadt gehen, stellt sich dasselbe Problem: Wer war dort eigentlich Regierungspräsident in der NS-Zeit, oder wer hat dem Gericht präsidiert, usw. usf.? Sowie der Name fällt, sowie die Wahrheit konkret wird, tut sie weh, und dann wird sie leicht weggeschoben.
Erschreckend selbst noch für uns Nachgeborene ist es, wenn wir uns mit der Ratio der vergangenen Diktatur konfrontieren. Als Eugen Kogon sein berühmtes, Epoche machendes Werk Der SS-Staat veröffentlichte, fragte er sich, ob er diese »dunkle Last« wirklich schriftlich festhalten solle.
»Manchmal kam es mir in den Sinn, ob ich nicht der sei, der das System, von dem Kunde gebracht wird, nun eigentlich erst rationalisiere, indem [ich] die Stärken und die Schwächen zugleich aufzeig[e], sodass es für einen künftigen Tyrannen sozusagen vollwirksam und gebrauchsfertig werde. Ich war infolgedessen mehrmals während der Abfassung des Manuskripts versucht, es zu verbrennen.«
Und noch etwas quälte ihn. Selbst Opfer können unter den unmenschlichen Bedingungen der Tyrannei unmenschlich und zum Teil des Bösen werden. Im Kampf um die nackte Existenz und das Überdauern, schreibt Eugen Kogon, hätten sich die sittlichen Wertmaßstäbe der vergewaltigten, der kranken, der pervertierten, der blind gewordenen Gefangenenseelen bis zum Zerbrechen gebogen. Ein Dschungel der Verwilderung habe in den Konzentrationslagern geherrscht, der die tragoedia humana in absonderlichster Weise exemplifiziert habe. Soll man auch davon Zeugnis ablegen?
Ich kannte das Werk von Eugen Kogon lange. Dass ein Mann wie er sich fragt, ob auch die dunklen Seiten der Opfer erwähnt werden müssen, zeigt uns, dass nicht jeder Versuch, etwas durch Vergessen zu bannen, einfach
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