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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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verlassen. Ein verlorener Krieg, ein heimgekehrter SS-Soldat, ein frischgebügeltes Sommerhemd lag im Schrank, und auf dem Kopf des Vaters wuchs noch kein graues Haar.
    (…)
    Die Friedhöfe hält der Vater unten im Hals, wo zwischen Hemdkragen und Kinn der Kehlkopf steht. Der Kehlkopf ist spitz und verriegelt. So können die Friedhöfe nie hinauf über seine Lippen gehen. Sein Mund trinkt Schnaps aus den dunkelsten Pflaumen, und seine Lieder sind schwer und besoffen für den Führer.
    Die Hacke hat einen Schatten im Beet, der hackt nicht mit, der Schatten steht still und sieht in den Gartenweg. Da pflückt ein Kind sich die Taschen voll mit grünen Pflaumen.
    Zwischen den abgehackten dümmsten Pflanzen sagt der Vater: Grüne Pflaumen soll man nicht essen, der Stein ist noch weich, und man beißt auf den Tod. Niemand kann helfen, man stirbt. Am hellen Fieber brennt dir von innen das Herz aus.
    Die Augen des Vaters sind verschwommen, und das Kind sieht, dass der Vater es liebt wie eine Sucht. Dass er sich in seiner Liebe nicht halten kann. Dass er, der Friedhöfe gemacht hat, dem Kind den Tod wünscht.
    Darum ißt das Kind die Taschen mit den Pflaumen später leer. Alle Tage, wenn der Vater das Kind nicht sieht, versteckt es im Bauch halbe Bäume. Das Kind ißt und denkt sich, dies ist zum Sterben.
    Aber der Vater sieht das nicht, und das Kind muß nicht sterben.
    Die dümmsten Pflanzen waren Milchdisteln. Der Vater wußte was vom Leben. So wie jeder, der was vom Tod sagt, weiß, wie es im Leben weitergeht.
    Als sie das in ihrem Roman Herztier schrieb, hatte sie die Niederungen, die ihr zum Leben zugewiesen waren, schon verlassen. In Niederungen schreibt sie sich frei von einer Einbindung in Heimatidylle aus Vergessen und Beschwörung deutscher Besonderheit. Sie hat es geahnt, sie wird sich verhasst machen bei vielen Landsleuten, weil sie sich so erinnert und nicht anders, wie sie es tun, weil sie so spricht und nicht anders, wie sie es tun. Das größere System Staat wird sie hassen, weil sie sich nicht »erziehen« lässt, andere Freunde hat, als sie haben sollte, andere Ideen, andere Haltungen.
    Ob Herta Müller sich jemals diesen weichzeichnenden Blick auf die Diktatur gestattet hat, der so »normal« ist bei den vielen – schwer vorstellbar. Zu oft sind selbst die Orte und Handlungen des einfach normalen Lebens geradezu durchwoben vom Verfall. Angst, Verrat, Tod durch fremde oder eigene Hand, allüberall. Die Schule, der Betrieb, die Liebeslager, der Wald, die Stadt, der Fluss, das Land.
    Wie bei den Romantikern die Sterne und Blumen das Leben feiern – so öffnen sich in Herta Müllers Welt an allen Orten und mitten in den Menschen schwarze Löcher. Sie sind dem Sein dort eingeprägt und immer wieder da oder sind mit ihrer negativen Schwerkraft fähig, dem Normalen die Normalität, dem Schönen den Glanz zu nehmen. Das Maisfeld, der Baum, das Tierfell, das Augenlid, alles und mehr öffnen der Angst Räume in die Wirklichkeit. Selbst Licht von Sonne oder Lampe erscheint hier bedrohlich. Alles eigentlich. Der Tod schafft sich in diesen »schwarzen Löchern« seine Lebensräume. Er sagt, das sei normal.
    Es ist ein verstörendes Memento mori , es ist so anders als in der Kunst des Barock. Dort gesellt sich der Tod sichtbar den Lebenden zu. Schädel schauen uns an, Gerippe tanzen mit im Reigen. Bei Herta Müller ist Tod aber nicht (nur) der natürliche Begrenzer der irdischen Existenz des Menschen. In den Welten der Ohnmacht, die die Tyrannen und Diktatoren den Unterdrückten zuweisen, spielt der Tod eine Doppelrolle. Wie eh und je sanft oder brutal unter die tretend, die sich »mitten im Leben meinen« – das ist eine Gestalt, die nicht geliebt, aber vertraut. Die andere: ein Büttel der Macht, ein »Diensthabender«, dessen Dienste unter freien Bürgern nicht benötigt werden. Aber wo Staatsinsassen gezüchtet werden, wird »der König« töten, mag er sich andernorts noch so galant »verneigen«.
    Weniger poetisch gesprochen: Die zweite Gestalt des Todes ist eine Funktion jener Herrschaft, die sich ihre Herrschaft stiehlt, statt sie sich von ihren Bürgern auf Zeit geben zu lassen. Wer aber Macht nimmt wie einen Raub, wird sich fürchten, das geraubte Gut zu verlieren. Und wer sich fürchtet, muss anderen Angst machen. Dazu benötigt man Boten der Angst, je länger, je mehr.
    Ganze Heere und nicht nur Bataillone müssen da Dienst tun – denn es gilt, der Angst in jedem Lebensort und eigentlich in jedem

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