Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
hilft, zu reden von dem, was uns eigentlich stumm macht.
Wir haben unter Schmerzen gelernt – das ist eine der ganz wesentlichen politisch-kulturellen Leistungen der alten Bundesrepublik. Wir haben gelernt, dass die Anerkennung von Schuld, auch das Bezeugen von Scham, das Ja zu einer eigenen Geschichte, und sei sie noch so schmerzhaft, eine Gesellschaft nicht schwächer, sondern stärker macht. Sich der Vergangenheit stellen ist das bessere Programm, und wir wünschten dieses Programm all jenen Gesellschaften, die sich schwertun und in einem vorschnellen Schlussstrich und im Schweigen über das Dunkel von Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit den geeigneten Weg in eine politische Zukunft sehen.
Ich weiß, dass der Meinungsstreit manchmal heftig war, oft giftig und vergiftet, und Auschwitz auch als Moralkeule benutzt wurde, wo eine schlichte innenpolitische Sachdebatte angezeigt gewesen wäre. Trotzdem waren diese Zeiten, als wir uns neu und zu unserer Schuld hin orientierten, Wachstumszeiten für diese Republik. Sie hat sich ihr ziviles Gesicht unter Kämpfen und Streit errungen; das wollen wir heute auch würdigen.
Wir haben gelernt, dass es, um ein altes Bibelwort zu zitieren, etwas gibt, das uns frei macht. Es ist die Wahrheit. Geistig und politisch gewinnt derjenige die Zukunft, der nicht vor der Wahrheit wegläuft. Der Jurist Fritz Bauer beispielsweise, der nach seiner Rückkehr aus der Emigration gar nicht weit entfernt von hier als hessischer Generalstaatsanwalt große Prozesse gegen die SS-Besatzung von Auschwitz anstieß, hat sich noch fremd gefühlt in Westdeutschland. »Wenn ich mein (Dienst-)Zimmer verlasse«, so sagte er, »betrete ich feindliches Ausland.« Er erhielt in den fünfziger und sechziger Jahren kaum gesellschaftliche Anerkennung für seine Aufarbeitung des NS-Unrechts und die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944. Seitdem hat sich allerdings vieles verändert.
Da ist etwas gewachsen in dieser Nation von einem sicheren Wissen, dass nationale Bindung nicht den höchsten Wert darstellen kann. Nein, ich werde nicht »mein Land« zu einem Land sagen, das das Unrecht und die Ungerechtigkeit zum Staatsprogramm und zum Kern der eigenen Politik macht. Wir wollen keinem »negativen Nationalismus« das Wort reden. Aber wir glauben nicht, dass wir Freiheit, Offenheit und Gestaltungsfähigkeit gewinnen, wenn wir über das hinwegsehen, was diese Nation ruiniert hat. Wir wollen im politischen Diskurs nicht verfahren wie in Freundes- und Familienkreisen, wo man, um Konflikten aus dem Wege zu gehen, sich manchmal einfach auf die Schulter klopft und meint: »Schwamm drüber!«
Im politischen Diskurs gilt vielmehr ein Prinzip, das wir aus der Arbeit von Menschen in psychotherapeutischen Berufen kennen. Therapeuten gehen zu frühen Verletzungen und Traumata zurück, die Menschen beschädigt haben – nicht um sie zu quälen, sondern um sie sehen, wissen und fühlen zu lassen, was sie einst schwach, krank und kaputt gemacht hat. Um in Auseinandersetzung mit dem, was sie entmächtigte und entwürdigte, die Möglichkeit und die Kraft zum Abschied von diesen Prägungen in ihnen wachzurufen.
Ja, meine Damen und Herren, wenn sich unser Land durch die Generationenfolge, aber auch durch die Vernunft der demokratischen Kräfte geändert hat, so wollen wir uns freuen. Aber wir übersehen nicht, dass wir mit unserem »Ja – erinnern« einem schwierigen Programm verpflichtet sind.
Ich bin als ein 1940 Geborener zwar keineswegs schuldig an dem, was die Nazis angerichtet haben, obwohl ich fälschlicherweise in meinem früheren Leben als Pfarrer versucht habe, selbst noch junge Menschen mit Schuld anzustecken. Das war gut gemeint, aber töricht gehandelt, denn Schuld ist eine personale Dimension. Ich hätte ihnen die Augen öffnen können, ohne sie schuldig machen zu müssen.
Wenn wir es ernst meinen mit der Bereitschaft, das Gewesene anzuschauen, dann fördert dieser Vorgang für uns Nachgeborene auch zutiefst Verstörendes an die Oberfläche. Wenn wir denn wollen, erkennen wir nämlich, dass das Unmaß staatlich verordneten Mordens eben nicht einfach ein Ergebnis des Handelns von Apparaten war, sondern dass hinter diesem staatlichen Handeln Namen stehen, ganz konkrete Menschen, die Befehle erteilt und ausgeführt haben. Keineswegs war das nur eine Handvoll Schuldiger aus dem Reichssicherheitshauptamt oder der Reichskanzlei – »Adolf Hitler war es, ich bin es nicht gewesen« –, häufig waren
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