Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Widerspruch, wenn ein Kind den Zeigefinger einzieht, weil es die müde Königin nicht wecken will und fragt, wie heißt er. Und wenn die Mutter sagt: er hieß ALBERT .
Wann wird all das weichen? Wann wird uns das verlassen, wann werden wir verlassen, was uns so ohnmächtig machte? Wie lange kann ich jetzt noch weiterlesen – in dem Buch der verstörenden Wahrheiten. Will ich etwa diesen Blick haben, soll er aus der Romanfigur auf mich übergehen?
Herta Müller schreibt: »(…) ihre Augen sind aufgerissen, ihr Blick ist der Jäger, springt aus den Augen und trifft. Was der nasse Mund schreit, ist Glut auf der Zunge. Ihr Zorn ist Hass, so schwarz wie ihr Mantel.« Wie lange soll dieses weibliche Roman-Ich meine männliche Lebensbewältigungstechnik noch hindern am Abschied von den Schatten? Ich werde das Buch jetzt zuschlagen. Ich werde ins Nebenzimmer gehen und den Fernseher einschalten, hoffentlich gibt es Fußball. Fußball ist gut für die Männerseele. Auch schöne Musik wäre gut. Sie ist gut für alle Seelen. Kein Fußball, keine Musik. Zurück in das Buch gehe ich jetzt auch nicht mehr. Ich wäre verstört und voller Unruhe, wenn ich weiterlesen würde. Was tun – schlafen? Aber kann ein Flüchtender schlafen? Ich fliehe nach draußen, dort sind frische Luft und ein dunkler Park. Es ist Mai, ich gehe nur wenige Schritte, merkwürdige Töne, ich kenne sie eigentlich, aber hier? Hier singt die Nachtigall. Nichts ist, wie es im Tageslicht ist. Nichts ist, wie es ist, während sie singt. Sie singt, sage ich zu mir, wenn es dunkel ist – merkwürdig, die anderen singen, wenn das Licht kommt.
Verstünde ich, was ich fühle, so hörte ich vielleicht eine Botschaft: Zwar singe ich, wenn es dunkel ist, aber ich singe, weil es dunkel ist.
43 Joachim Gauck, »Wann wird all das weichen? Laudatio auf Herta Müller anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Gesellschaft 2004«, in: Sinn und Form 2004, Heft 5, S. 699–704.
Erinnern an zwei Diktaturen
Zum Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus
Gedenkveranstaltung des Hessischen Landtags, Wiesbaden, 27. Januar 2005 44
Herr Präsident des Landtags, Herr Ministerpräsident,
verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Mein Nachdenken und meine Begegnung mit Ihnen hier in diesem hohen Haus stehen unter dem Thema »Ja – erinnern«.
Auschwitz, unsere zentrale Metapher für das Grauen, das Menschen über andere Menschen bringen, Auschwitz, so lese ich, stand verzeichnet in den Fahrplänen der Deutschen Reichsbahn. Es war kein Ort in irgendeinem östlichen Nirgendwo, sondern eine Stadt, die nach der Besetzung Polens dem Deutschen Reich zugeschlagen worden war. Eine Stadt, in die jene verfrachtet wurden, die nach der Würde auch noch ihr Leben verlieren sollten. Kein Grund dafür, nirgends. Aber das Töten wird nun von diesem Ort aus in der Geschichte der organisierten Menschheit in eine neue Dimension eintreten.
Im September 1941 werden in einem »Versuch« neunhundert sowjetische Kriegsgefangene und kranke Häftlinge mit Zyklon B getötet. Als drei Jahre und gut vier Monate später die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee erfolgt, werden 1,1 Millionen Menschen umgekommen sein – in den Gaskammern, durch Hunger, Krankheit oder Misshandlungen. Ihre Leichen wurden verbrannt, ihre Asche zerstreut.
Die übergroße Mehrheit der Getöteten waren Juden. Dazu kamen hundertvierzigtausend Polen – wir vergessen sie leicht als Opfergruppe bei unseren Feiern zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes. Dann Sinti und Roma, die als Zigeuner verfolgt wurden. Nicht zu vergessen die sowjetischen Soldaten und Kommissare.
Viele haben gesagt, die einzig angemessene Reaktion angesichts dieses unvorstellbaren Mordens sei Schweigen. Als Nachkriegskind muss ich ehrlicherweise sagen: Meine Generation erinnert sich mehr an das Schweigen als an das Erzählen. An die Schweigestrategien, an die Schweigespiralen, an die selektive Erinnerung in unseren Familientraditionen. Wir sehen: Schweigen kann ebenso falsch sein wie Reden. Es gibt so falsches Schweigen, wie es falsches Reden gibt. Und deshalb: Wir können nicht einfach schweigen. Gerade wenn das Schweigen die Verbrechen verdecken soll.
»Ja – erinnern«. Das heißt, dass wir uns weiter mit unserer Sprache verständigen müssen, die wir nun einmal haben. Es wäre allerdings gut, wenn unser Herz unserem Verstand zu Hilfe käme, damit wir vielleicht eine Sprache finden, die uns
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