Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
moralisch zu verurteilen ist. Es ist auch ein menschlicher Impetus: Schaffe ich dem Bösen nicht einen Raum, der es – und sei es in Worten – noch einmal groß macht? Und denunziere ich unter Umständen jene, mit denen ich Mitgefühl erzeugen möchte?
Kogon sagte – wir wissen es – dennoch Ja zu seinem Werk, da es »ein Ecce-Homo-Spiegel ist, der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschafften haben«. Vielleicht, so seine Hoffnung, werde eine solche Spiegelung menschlicher Abgründe dazu beitragen, Deutschland und die Welt vor der Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichem zu bewahren.
Wir hoffen also, dass wir, die wir uns hier treffen, gefeit sein mögen vor der Gefahr des Verschweigens und des selektiven Erinnerns. Aber wir müssen uns fragen, ob Erinnerung nicht auch eine Konjunktur hat, die sich zu Tode laufen kann. Diese Sorge bewegt mich besonders seit der Übernahme des Vorsitzes des Vereins »Gegen Vergessen – für Demokratie«. Wird es uns gelingen, die tiefe emotionale Erschütterung, die meine Generation in der Konfrontation mit den Tätern und Opfern der Nazizeit erlebt hat, in gleicher Weise weiterzutragen in unsere Schulen, unter unsere jungen Leute?
Alle diejenigen, die mit Jugendlichen arbeiten, wissen, dass das nicht einfach mit gutem Willen zu machen ist. Die Kundigen und die Engagierten im Lande müssen Fantasie und Sensibilität aufbringen, damit sie das, was sie einst bewogen hat, Demokraten zu werden, vielleicht in einer anderen Sprache, in einer anderen Tonart, mit anderem Bildmaterial und mit anderen Gedenkformen vorbringen. Wir müssen in unterschiedlichen Zeiten das von uns als richtig Erkannte wohl unterschiedlich sagen.
Für mich ist es zum Beispiel schwer erträglich, ein Kunstprodukt wie den Comic von Art Spiegelman zu sehen, in dem die Geschichte eines Überlebenden in Form einer Tierfabel erzählt wird –die Juden als Mäuse, die Deutschen als Katzen, die Polen als Schweine. Es mag sein, dass es manche Form von Begegnung mit der Vergangenheit gibt, die wir Älteren als trivial empfinden, die gleichzeitig aber für Jüngere eine Möglichkeit des Erkennens, Begreifens und ein emotionaler Türöffner sind zu dieser Welt des Unrechts.
Es kann ja sein, dass sich nicht große Namen wie Anne Frank, die mein Herz in meiner Jugend bewegt haben, in die Herzen von Jugendlichen schleichen, sondern die Namen von Unbekannten, von denen wir bisher noch nie etwas gehört haben. Es hat mich sehr bewegt, dass Arno Lustiger, Überlebender von Auschwitz, 2005 in seinem Vortrag vor dem Deutschen Bundestag dafür geworben hat, gerade die kleinen Helfer zu würdigen, die »Rettungswiderstand« betrieben haben – sogar Helfer in Uniform. 46
Es könnte also sein, dass irgendwo in Nordhessen ein Jugendlicher fragt: »Karl Laabs aus Kassel? Ein Architekt? Was hat der denn im polnischen Chrzanów/Krenau gemacht?«, und herausbekommt, dass dieser als Baurat dorthin abkommandiert war, dass er Juden und andere Menschen erst mit Nahrungsmitteln versorgt, sie dann versteckt und ihnen zuletzt Fluchtwege eröffnet hat– zwanzig Kilometer entfernt von Auschwitz. Als er ins Visier der Gestapo geriet, rettete er sich in die Luftwaffe, wo er Feldwebel wurde.
Es könnte auch sein, dass an einer Schule, in der vielleicht Behinderte integriert werden, eine größere Bereitschaft existiert, über die Zeit des Nationalsozialismus und des Mordens zu forschen, wenn man sagt: Schauen wir uns einmal die Geschichte der behinderten Menschen in unserem Dorf, in unserer Stadt an. Die Schüler hören dann »Euthanasie«, sie begegnen der Zwangssterilisierung, und wenn es schlimm wird, spüren sie, dass in ihrer eigenen Familie ein dunkles Geheimnis ist, weil sie sich kalt getrennt hat von einem behinderten Kind, das nie wieder zurückkam aus dem Tötungszentrum Sonnenstein bei Pirna, aus der psychiatrischen Klinik Hadamar bei Limburg an der Lahn oder wo auch sonst diese Menschen vom Leben zum Tod gebracht wurden.
Vielleicht fühlen sich Kinder und Jugendliche ja herausgefordert, sich nicht auf den ausgefahrenen Pfaden der Erinnerungskultur zu bewegen. Vielleicht werden sie bisher unbekannten, namenlosen Opfern ein Gesicht geben, neue Stolpersteine einmauern lassen, neue Steine, Stelen, Epitaphien aufstellen oder neue Bücher schreiben – wenn, ja wenn es uns gelingt, das »Nie wieder« nicht im Ritual
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