Nicht die Bohne!
hinterlassen.
Etwas unbeholfen tätschle ich seine Hand auf meiner Schulter und hauche: »Alles ist gut, Harry. Lass uns mal runtergehen.« Dann mache ich Anstalten aufzustehen, wobei Harry mir galant unter die Arme greift. Mit ernster Miene versucht er, mich auf meinem Weg zur Tür zu stützen, aber ich kann ihn mit einem freundlichen und doch sehr bestimmten Lächeln von meiner Fähigkeit, ungestützt zu laufen, überzeugen.
In der Küche sitzen schon alle um den Tisch herum und starren auf einen großen Plan, der an den Seiten über die Holzplatte ragt. Da die Hühnerkacke auf den Fliesen verschwunden ist, scheint jemand sogar schon den Wischmopp geschwungen zu haben.
»Keine vorzeitigen Wehen!«, verkündet Harry stolz, als wir den Raum betreten, und ich presse eine Hand vor den Mund, um nur ja nicht in unpassendes Gekicher auszubrechen. Die restliche Öko-Gang befindet sich nämlich in einem wirklich bemitleidenswerten Zustand. Lachen ist hier gänzlich unangebracht.
Edgar ist ganz weiß im Gesicht und starrt ausdruckslos vor sich hin, Alinas rote Locken türmen sich auf ihrem Kopf und würden in diesem Zustand locker zwei Hennen eine tolle Brutgelegenheit bieten, Elena hat rot geweinte Augen und Simon presst sich ein rosa gefärbtes Handtuch an die Stirn.
»Mit was bist du denn zusammengestoßen?«, frage ich und beuge mich zu ihm hinunter. Er bleibt unbewegt sitzen und verdreht nur die Augen, um mich ansehen zu können.
»Wand«, knurrt er dann.
»Zeig mal«, fordere ich ihn auf, und Elena gibt ein ganz und gar undamenhaftes Schnauben von sich.
»Das zeigt er dir erst, wenn der Kopf droht, von den Schultern zu fallen«, bemerkt sie spitz und widmet sich wieder ungerührt dem vor ihr liegenden Plan.
Da niemand Anstalten macht, einen Notarzt zu verständigen oder Simon bewusstlos zu schlagen, um die Wunde zu versorgen, gehe ich mal davon aus, dass die Öko-Gang dieses Thema schon das eine oder andere Mal durchdiskutiert hat. Man scheint die stillschweigende Übereinkunft getroffen zu haben, Simon so lange zu ignorieren, bis der Kopf tatsächlich von den Schultern fällt. Was natürlich völliger Schwachsinn ist. Von nicht erkannten Schädelbasisbrüchen mal ganz abgesehen, macht eine gut versorgte Wunde einfach keine so großen und hässlichen Narben. Und mit hässlichen Narben kenne ich mich aus.
Meine Schwester Andrea ist mit acht Jahren beim Tarzan-und-Jane-Spiel frontal auf dem Couchtisch gelandet und hatte eine riesige Platzwunde auf der Stirn. Meine Eltern nahmen das recht locker, nachdem die Blutung einmal gestillt war, und seitdem hat Andrea eine wirklich unschöne Narbe mitten auf der Stirn. Sie sieht aus wie ein Fadenkreuz. Noch heute macht sie meinen Eltern Vorhaltungen, dass sie ihretwegen mit diesem optischen Makel durchs Leben wandern muss. Dieses traumatisierende Erlebnis hat uns beide dazu gebracht, regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse zu belegen. Bei meinem alten Arbeitgeber war ich sogar als die gesetzlich bestellte Ersthelferin eingetragen.
Dazu passt auch meine recht robuste nervliche Ausstattung. Offene Wunden lassen mich vollkommen kalt, und das Festtapen von herumhängenden Hautfetzen empfinde ich persönlich eher als handwerkliche Herausforderung. Ist doch toll, wenn jemand, der frontal in einen Gabelstapler gelaufen ist, dank meiner Fingerfertigkeit hinterher nicht zum Kinderschreck mit Kreischgarantie wird, oder? Ein sogenannter Ersthelfer zu sein hat mir immer viel Spaß gemacht. Wobei es sich für die Betroffenen natürlich zwangsläufig um eine eher spaßfreie Angelegenheit handelt.
Um zum Punkt zu kommen: Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die ersten Minuten zählen, und ich bin diesbezüglich sehr eigen. In meiner Gegenwart werden Wunden umgehend versorgt. Basta!
»Habt ihr einen Erste-Hilfe-Kasten?«, frage ich deshalb, woraufhin mich fünf Augenpaare ungläubig ansehen.
» DAS will ich sehen«, murmelt Alina, springt aber auf und fängt an, in einem der Oberschränke zu kramen.
»Vergiss es«, knurrt Simon zeitgleich, da habe ich allerdings längst das Handtuch gepackt und somit den Überraschungsmoment sinnvoll genutzt. Die Wunde ist direkt am Haaransatz und tief. Zwar blutet sie nicht mehr, aber die Wundränder sehen auch nicht wirklich gut aus.
Elena stößt einen Ekellaut aus, während ich den Deckel der kleinen grauen Box öffne und mir als Erstes Handschuhe überstreife. Hygiene ist schließlich das A und O der guten Wundversorgung.
Im selben Moment packt Simon
Weitere Kostenlose Bücher