Nicht die Welt (German Edition)
Menschenseele auf den Straßen, kein Licht, welches in einer der Wohnungen leuchtete. Obwohl die Stadt den Eindruck des Todes erweckte, wusste er es besser. In einigen Häusern lebten tatsächlich Menschen, vielleicht einige Tausend im gesamten Stadtgebiet. Genaue Zahlen kannte niemand. Diese Menschen blieben nicht etwa für eine kurze Zeit, nein, sie lebten dauerhaft hier. Unter ihnen waren einige Läufer, aber vor allem waren es sehr alte Menschen, die den Krebs nicht fürchteten, und Menschen, die nicht vermisst wurden, jene also, die von der Gesellschaft längst aufgegeben worden waren. Er nannte sie die Vergessenen. Dieselfässer an den Straßenrändern, die langsam vor sich hin rosteten, waren stumme Zeugen, dass es vor mehr als zehn Jahren in der Alten Ordnung wesentlich mehr Vergessene gab, wahrscheinlich ging ihre Zahl damals in die Hunderttausende. Er selbst sah diese Menschen, wie sie geordnet und langsam, aber unerbittlich in die Stadt drängten. Als die Armut in Neustadt ein Ventil suchte, wurden sie hierher gelockt, indem ihnen ein gutes Leben versprochen wurde. Kleidung und Nahrung sollten gestellt und auch für eine Unterkunft sollte gesorgt werden. Tatsächlich wurden sie in der Stadt aber sich selbst überlassen. Es gab weder ein übergeordnetes Gesundheitswesen noch irgendeine funktionierende Infrastruktur. Die Unterstützung beschränkte sich lediglich auf regelmäßige Abwürfe von Nahrung, Kleidung und Medikamenten aus der Luft. Entweder flogen Drehflügler an einige wichtige Plätze der Stadt oder die Auslieferung erfolgte mit Hilfe der großen Luftschiffe. Um Seuchen zu verhindern, fuhren die Wächter in die Stadt hinein und verbrannten die Leichen, die von den Vergessenen an die Ausfallstraßen gebracht wurden. Trotzdem kam es in dieser Zeit immer wieder zu großen Seuchen, welche sich über die Grenzen des Sperrgebiets hinaus ausbreiteten. Aus diesem Grund wurde noch in der Alten Ordnung eine weitere massenhafte Einwanderung in die Stadt verhindert. Fuhr der alte Wächter früher täglich in das Sperrgebiet hinein, war es heute wesentlich seltener und auf eigene Faust. Immer aber tat er es nachts, vor allem bei Vollmond zog ihn die Stadt magisch an.
Er erreichte die große Prachtstraße. Unmittelbar vor ihm lag der Triumphbogen. Bedrohlich und erhaben zugleich wirkte das monumentale Bauwerk im fahlen Mondlicht. Der Stahlbetonbau dominierte mit gut 60 Metern Höhe sein Umfeld und war schlicht gehalten. Zusammen mit der Prachtstraße wurde der Triumphbogen schnellstmöglich gebaut, um den ersten Jahrestag des Sieges in einer würdigen Umgebung begehen zu können. Er fuhr hindurch und blickte nach oben. Die Bögen des vierstirnigen Bauwerks waren in großer Höhe angelegt worden. Die Überreste einer riesigen Flagge hingen über ihm. An den mächtigen Säulen waren die verschiedenen Schlachten verzeichnet und die Verluste an Soldaten, die sie erlitten hatten. Die Inschriften waren mit phosphoreszierender Farbe übermalt worden, so dass man sie auch in der Nacht lesen konnte. Er erinnerte sich, wie er und seine Kameraden in einer prächtigen Militärparade nach dem Krieg hier hindurchmarschierten. Alles war mit Flaggen ausgeschmückt, die Straße mit Blumen übersät. Er sah die fröhlichen Gesichter und den unbändigen Jubel der Menschen vor sich. Stolz waren sie gewesen, dass sie ihr Land verteidigt hatten, dem Feind die Stirn geboten und wenn nicht vollständig besiegt, ihm doch letztlich einen Waffenstillstand aufgezwungen hatten. Doch die Siegesparade war in einer zerstörten, von den Bombardierungen und den Straßenkämpfen schwer gezeichneten Stadt abgehalten worden. Überall herrschte Armut und Elend. Die Ruinen der Häuser standen im Missverhältnis zu den freigeräumten und gesäuberten Straßen.
Vor allem aber erinnerte sich der alte Wächter an dieses starke Gefühl der Freude, das er empfunden hatte, die Dankbarkeit darüber, noch am Leben zu sein. Er berührte vorsichtig sein Bein. Der Schmerz war kaum noch spürbar. Auf dem Rückzug von der großen Schlacht im Westen hatte er sich die Verletzung zugezogen. Obwohl er an einen als ruhig geltenden Frontabschnitt abkommandiert worden war, um sein Magenleiden auszukurieren, fand er sich unversehens in einer der größten Schlachten des Krieges wieder. Eigentlich hätte er tot sein müssen, war die Granate doch unmittelbar neben ihm explodiert. Sein Leben war schon an ihm vorbeigezogen, als er blutend im hohen Gras lag und in
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