Nicht die Welt (German Edition)
glücklicherweise immer recht warm, selbst im Winter herrschten hier angenehme Temperaturen. Nur mit einer Unterhose bekleidet ging er zunächst zum Treppenhaus und warf die leere Konservendose in eine Art Müllschlucker. Die Dose schlug mehrmals gegen die Wand des Schachts und brauchte eine ganze Weile, ehe sie unten auftraf. Anschließend suchte er die Nasszelle am anderen Ende des Flurs auf, in der es mehrere Klos mit Sichtschutz und zwei Reihen mit Waschbecken gab. Die Spiegel darüber waren entfernt worden. Quer durch den Raum hing eine Wäscheleine, an der mehrere Kleidungsstücke trockneten. Der Wasserhahn tropfte, und als er ihn aufdrehte, kam nur ein schwacher Strahl heraus. Er nahm ein Glas, das auf dem Beckenrand stand, füllte es mit Wasser und spülte seinen Mund aus. Die Zahnbürste wies leider nur noch wenige Borsten auf und war nicht mehr zu gebrauchen. Immer wieder hatte er sich vorgenommen, eine neue zu kaufen, war bis jetzt aber nicht dazu gekommen. Mit kleinen Stückchen aus Buchenholz versuchte er, seine Zähne so gut wie möglich zu reinigen. Rasieren konnte er sich ebenso nicht mehr, nachdem die Klingen stumpf geworden und verrostet waren. Er nahm einen feuchten Lappen von der Leine und wusch sich. Die alte Unterwäsche weichte er in einem anderen Waschbecken in Wasser mit etwas Seife ein, die er sich aus der winzigen Küche neben der Nasszelle besorgt hatte. Nachdem er sich saubere Unterwäsche und Socken von der Leine genommen hatte, ging er schließlich in seine Wohnung zurück und öffnete einen Koffer mit Kleidung, der neben dem Bett lag. Beim Anziehen seiner Hose fiel ein Zettel aus einer der Taschen heraus. Er hob ihn vom Boden auf und versuchte, die Schrift zu lesen: »Der Schlüssel ist das Symbol, das Symbol ist der Schlüssel«, stand darauf in großen Buchstaben, wobei » das « jeweils unterstrichen war. Er wusste nicht, was dieser Satz zu bedeuten hatte, obwohl er ihm bekannt vorkam.
Der alte Mann ging zum Tisch, öffnete den Aktenordner und heftete ein neues Blatt Papier ab. Als er sich die Seite für den vorgestrigen Tag ansah, bemerkte er, dass dort ein Kreuz und ein Quadrat vermerkt waren. Das Kreuz stand für den Besuch des Orakels und das Quadrat für die Wacht am Tor zur Unterwelt. Mit großer Zufriedenheit stellte er die Regelmäßigkeit der Eintragungen auf den vorigen Seiten fest: Alle sieben Tage war ein Kreuz vermerkt und alle zwei Tage ein Quadrat. Immer weiter blätterte er in seine Vergangenheit zurück, bis sich seine Miene langsam verfinsterte. Früher hatte sein Leben noch aus Doppelkreuzen, Kreisen und Dreiecken bestanden, nur konnte er sich nicht mehr erinnern, welche Bedeutungen diese Symbole hatten. Selbstverständlich hatte er den Verschlüsselungscode niedergeschrieben, unglücklicherweise war dieser Zettel jedoch verloren gegangen. Das Quadrat war vor einiger Zeit neu aufgetaucht und offensichtlich an die Stelle des Doppelkreuzes getreten.
Aus seinen Aufzeichnungen konnte er nicht schlussfolgern, dass er einer geregelten Arbeit nachging. Ebenso schien er nicht vermisst zu werden, denn bis heute stattete ihm niemand einen Besuch ab, um sein Kommen einzufordern. Er fragte sich, welchem Beruf er nachgegangen sein konnte. Eine handwerkliche Beschäftigung wäre denkbar, so geschickt, wie er Dosen und Flaschen mit Werkzeugen zu öffnen vermochte. Dafür sprachen sowohl die große Werkzeugkiste in seiner Wohnung als auch der Schmutz unter seinen Fingernägeln, wie er missmutig feststellen musste. Auffällig waren außerdem die vielen übereinander gestapelten Konservendosen. Die Aufdrucke darauf waren derart geschickt ausgerichtet, dass man den Eindruck gewinnen konnte, es handelte sich um eine Häuserwand. Das spräche allerdings dafür, dass er Architekt war und würde zudem erklären, dass er ständig Anzüge trug. Die Vorstellung, eine gehobene und in der Gesellschaft angesehene Position zu bekleiden, schien ihm sehr zu gefallen. Doch stimmte es auch? Auf keinen Fall jedoch war er Arzt gewesen, sonst hätte er die Ursache seiner körperlichen Beschwerden sicherlich längst selbst herausgefunden . Vielleicht bestand seine einzige Aufgabe auch darin, auf das Tor zur Unterwelt aufzupassen, das sich im Amphitheater befand. Ohne Frage war das eine wichtige und bedeutende Funktion. Doch was war das für ein Beruf?
Nachdem er gegessen und getrunken hatte, fühlte er sich imstande, die für heute vorgesehene Torwache durchzuführen. Er ging zum
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