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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Krepinsky
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den Himmel blickte. Doch er hatte Glück gehabt, unglaubliches Glück und überlebte.
     
    Hinter dem Triumphbogen lagen die ersten Monolithbauten. Sie waren niedriger als der Triumphbogen selbst, durch ihre lang gezogenen Fassaden aber ebenso imposant. Da sie sich unmittelbar an der Prachtstraße befanden, versperrten sie den Blick auf dahinter liegende Bezirke, die in Trümmern lagen. Der bleihaltige Putz begann langsam herunterzubrechen und nackter Stahlbeton kam darunter zum Vorschein. Die Monolithbauten sollten erst der Anfang sein zu einer umfassenden Neugestaltung der Stadt. Ein neues Zentrum, geprägt von der Alten Ordnung, sollte entstehen. Die Ordnung, die von den Menschen unterstützt wurde, die jetzt in Neustadt die Regeln der Neuen Ordnung vorgaben, glaubte der alte Wächter. Und er musste die Ordnungen mittragen, die andere für ihn erdachten. So wie ein Baum, der auf einer Wiese, auf steinigem Untergrund oder in einer Stadt wuchs, stand er da, musste das Beste aus der Situation machen, unbeugsam, aber auch unfähig, seine Umgebung zu ändern. Er stand da, von welcher Ordnung er auch umbaut wurde.
     
    Die Monolithbauten endeten vor dem Runden Platz. Mehrere mit Säulenarkaden geschmückte Gebäude bildeten hier zusammen einen Kreis, der durch die in alle Richtungen führenden Straßen unterbrochen war. In der Mitte des Platzes befand sich die große Bronzebüste des Idols, umgeben von einer Brunnenanlage, die längst ausgetrocknet war. In jede Himmelsrichtung wuchs ein Gesicht aus der Büste heraus, so dass es den Anschein hatte, als verfolgte das Idol den Vorbeifahrenden. Nach Osten, Westen und Süden war es derselbe und für das Idol charakteristische zornige Gesichtsausdruck. Nach Norden jedoch bot sich ein anderes Bild. Die Gesichtszüge veränderten sich und wurden freundlicher und heiterer. Fast schien es ein Lächeln zu sein. Der alte Wächter fuhr auf die nordöstliche Seite des Platzes. Er stieg aus dem Wagen aus, holte die Kiste aus dem Laderaum und ging zu einem spitz zulaufenden Gebäude. Die Empfangshalle war mit einer Notbeleuchtung ausgestattet worden. Er öffnete die Tür zu einem Treppenhaus, drückte den Knopf für den Lastenaufzug und wartete. Als der Aufzug angekommen war, stellte er die Kiste darauf. Bevor er sie nach unten schickte, benutzte er ein Telefon neben dem Kontrollfeld und nuschelte etwas hinein. Langsam glitt der Aufzug den Schacht hinunter und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Obwohl er heute nur eine Kiste brachte, war der Laderaum seines Schwebewagens gerade in letzter Zeit häufig vollständig beansprucht worden. In solch einem Fall hatte er über das Telefon jemanden aus der Tiefe zu Hilfe geholt.
     
    Auf dem Rückweg zu seinem Wagen nahm er die Goldmünze aus seiner Innentasche in die Hand und sah sie sich genauer an. Auf der Vorderseite war das Porträt des Idols und auf der Rückseite das Symbol der Alten Ordnung abgebildet, darunter die Inschrift »25 Jahre«. Die Münze war zum Jahrestag des Kriegsendes kurz vor der Explosion der Kuppel erschienen. Er betrachtete die große Bronzebüste in der Mitte des Runden Platzes und ging zu ihr hinüber. Vor der Büste stand ein Altar aus Stein, auf dem eine Inschrift in Bronzebuchstaben angebracht war: »... und so lasset uns errichten eine Stadt – Jahrtausende überdauernd.« Einige verwelkte Blumen lagen auf dem Altar, jedoch längst nicht mehr so viele wie früher, fiel dem alten Wächter auf. »Du hast hier immer noch Verehrer«, sagte er, als er zur Büste nach oben blickte. Doch etwas schien ihn zu verwirren, denn er holte seine Taschenlampe hervor und erleuchtete den Bronzekopf. Jemand hatte die Lippen des lächelnden Idols rot angemalt und nur die Lippen des lächelnden Gesichts, wie er feststellte, als er die Büste umrundet hatte. Ich werde dich nicht säubern, dachte er. Du bist nicht mein Idol. Nicht mehr. Früher, als er noch jung war, war es sein Vorbild gewesen. Das Idol hatte sich für sein Land aufgeopfert und war am Ende des Krieges in der Stadt in seinem Bunker umgekommen. Für ihn kamen die Spaltungsfernraketen, welche die zwei Städte der Feinde zu einem Großteil zerstörten, einen Tag zu spät. Er nahm die Goldmünze, legte sie auf den Steinaltar und sagte, den Blick nach oben gerichtet: »Für meine Überfahrt, Fährmann.«
     
    Nach einer Weile stieg er in seinen Schwebewagen ein und fuhr die Prachtstraße weiter in Richtung Norden. Er erreichte den dicht bewaldeten Zentralpark, und als

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