Nicht die Welt (German Edition)
er an die große Kreuzung kam, hielt er an und schaltete die Lichter seines Wagens aus. Vor ihm lag das Gelände des Innenministeriums und zu seiner Rechten erblickte er das alte Steintor. Das Steintor. Wie eine Urgewalt kamen die Erinnerungen und wurden lebendig. Flüchtig und kostbar zugleich. Bilder, die er aufnahm wie eine Droge. Wieder vereint mit ihr. Mit seiner großen Liebe. Ein Rausch vollkommenen Glücks, für einen kurzen Augenblick lang. Ein verzweifelter Versuch, die Bilder festzuhalten und zu bewahren, bevor sie wieder vergingen. Während seines Fronturlaubs war er hier mit seiner Frau jeden Tag spazieren gegangen. Manchmal mussten sie in tiefen Gräben Schutz suchen, wenn die Sirenen bei Fliegeralarm erklangen. Sie hatten während des Krieges geheiratet, nachdem er sich von seiner Verwundung erholt hatte. Damals gab es die Gebäude des Innenministeriums noch nicht, nur das Steintor stand schon an seinem Platz. Dort hatten sie sich voneinander verabschiedet. Und dort wollte er sie nach dem Krieg wieder in den Armen halten. Doch sie war nicht gekommen. Niemals. Langsam schloss er seine Augen. Die Erinnerung an sie verblasst immer mehr, dachte er. So viel habe ich vergessen. Was kann ich von ihr bewahren? Ihre Liebe und Güte? Nicht einmal ein Foto ist mir von ihr geblieben. Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, war ein Opfer der Flammen geworden und das Foto, das er immer bei sich trug, blieb in einem Fluss zurück, den er bei Kriegsende durchschwimmen musste, um sich vor dem Feind zu retten.
Der Mond war ein ganzes Stück am Himmel weitergewandert, als er seine Augen wieder öffnete. Ein Schuss war zu hören. Fast zeitgleich sah er einen Lichtblitz auf dem Gelände des Innenministeriums. Instinktiv ging er sofort in Deckung. Das muss vom Dach des Hauptgebäudes gekommen sein, dachte er, als ihm bewusst wurde, dass er hier drinnen sicher war. In seinen Schwebewagen war vor Jahren kugelsicheres Glas eingebaut worden, nachdem er bei seinen Kontrollfahrten wiederholt angegriffen worden war. Ein weiterer Schuss löste sich. Er verstand jetzt, dass der Schütze nicht auf ihn gezielt hatte, sondern auf jemanden weiter im Süden. Diese Dreistigkeit verwunderte ihn. Der Schütze musste die Schwebewagen der Wächter kennen und wissen, dass es Konsequenzen nach sich ziehen würde, eine Schießerei anzufangen, wenn sie in der Nähe waren, dachte er. Warum hatte er das riskiert? Hatte er ihn nicht gesehen? Gab es einen Grund, seine Tarnung auffliegen zu lassen oder war er nur unvorsichtig?
Der alte Wächter beschloss, bei Tag hierher zurückzukommen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Jetzt in der Dunkelheit konnte er nichts ausrichten. Zudem musste er sich die Schlüssel für das Innenministerium besorgen, um dort hineinzugelangen. Nachdem er den Motor gestartet hatte, wendete er den Wagen und fuhr die Prachtstraße in Richtung Süden. In seinem Rückspiegel beobachtete er aufmerksam das Hauptgebäude. Alles blieb ruhig. Am Runden Platz schaltete er die Scheinwerfer seines Wagens an. Unmittelbar vor dem Steinaltar – zu Füßen des lächelnden Idols – lag ein lebloser Körper in einer Blutlache. Offensichtlich handelte es sich um das Opfer des Schützen, aus weiter Entfernung gemeuchelt. Es war ihm nicht möglich auszusteigen, um ihn zu bergen, sonst konnte auch ihn der Tod ereilen. So fuhr er weiter in Richtung Süden. Doch er würde auf jeden Fall zurückkehren. Das war sicher. Als er die Schleuse der Südkaserne erreicht hatte, war die Nacht fast vorbei. Zwei Stunden Schlaf blieben ihm noch. Er überlegte kurz, bevor er sich entschied, den Rest der Nacht in der Digitalwelt zu verbringen.
8.
40 Meter. Der junge Mann und die junge Frau befanden sich tief unterhalb des Rundes Platzes unmittelbar vor dem Bunker, der durch eine schwere Stahltür gesichert wurde. Die Frau schlug mit der Faust gegen den Stahl und wartete. Nach einer Weile fragte jemand auf der anderen Seite der Tür: »Warum lebst du?«
»Ich lebe darum, ...«, sagte der junge Mann, konnte den Satz jedoch nicht beenden, weil ihn die junge Frau unterbrach: »... dass du lebst.«
»Wie?«, fragte die Stimme hinter der Tür.
»Macht schon auf, ich bin‘s«, sagte die junge Frau.
»Ich lebe darum, dass ich lebe«, sagte schließlich der junge Mann, die Tür öffnete sich, zwei Männer in weißen Schutzanzügen mit alten Gewehren erschienen und bedeuteten ihnen einzutreten. Der junge Mann und die junge Frau folgten der Anweisung und
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