Nicht die Welt (German Edition)
vor der Büste stand, und etwas aufhob. Der Gegenstand glitzerte im Mondlicht. Plötzlich rief der fremde Mann etwas für ihn Unverständliches, lief auf die junge Frau zu und warf sie zu Boden. Die Frau schrie und beide blieben liegen. Ein Schuss war zu hören. Sogleich ging der junge Mann wieder hinter der Büste in Deckung. War das ein Lichtblitz da hinten?, fragte er sich. Wir müssen hier sofort weg, entschied er instinktiv. Der junge Mann legte seinen Elektrostock beiseite, zog seinen Rucksack aus und kroch zu den beiden hin. Der Fremde lag immer noch auf der jungen Frau. Als er ihn anstieß, lief etwas Warmes über seine Hand. »Wir müssen hier sofort weg!«, rief er. »Bist du in Ordnung?«
»Mein Bruder, was ist nur mit meinem Bruder?«
»Er ist tot!«
Sie klammerte sich an den toten Körper. Neben ihnen spritzte der Straßenbelag auf, kurze Zeit später hörte man einen Schuss. Der junge Mann ergriff einen Arm der jungen Frau und zog sie hinter den Steinaltar. Sie weinte.
»Bist du verletzt?«, fragte er.
»Nein ... das, das ist nicht mein Blut, glaube ich.«
»Das war ein Heckenschütze aus weiter Entfernung, irgendwo im Norden auf dem Gelände des Ministeriums muss er sein.« Er hatte ähnliche Situationen häufig genug erlebt. Nur das hier war die Realität und nicht Neuwelt. »Wir müssen weg von der Straße ... am besten in ein Gebäude. Da ist es sicher. Wenn wir nicht stehen bleiben, können wir es schaffen«, sagte er zu ihr. Doch sie schien ihn nicht zu hören und wimmerte. Er streichelte ihr Gesicht und sah ihr in die Augen: »Komm‘, lass‘ uns gehen, du kannst nichts mehr für ihn tun.« Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, zeigte sie in die nordöstliche Richtung und sagte: »In dem spitz zulaufenden Gebäude da hinten ist ein Bunker. Da können wir hin.« Beide atmeten tief durch. Hand in Hand liefen sie los, wobei er ihr mit seinem Körper nach Norden hin Deckung gab. Den Blick nach vorne gewandt, waren sie sich zu jeder Zeit bewusst, dass auch ihr Leben im allernächsten Augenblick ausgehaucht sein konnte. Lass‘ mich nur den Schuss hören, dann lebe ich noch, dachte er. Der Mond ist so hell, so unglaublich hell. Ohne dass ein weiterer Schuss gefallen war, erreichten sie schließlich die Säulenarkaden des Gebäudes. Vielleicht will der Heckenschütze noch eine Weile mit uns spielen, bevor er uns erledigt, dachte er. Beide atmeten schwer, wobei sie sich mit den Händen an den Knien abstützten. Sie waren froh und dankbar, noch am Leben zu sein.
Im Eingangsbereich gab es nicht nur eine Notbeleuchtung, sondern auch phosphoreszierende Pfeile, die den Weg zum Bunker auswiesen. Hinter einer Stahltür auf der rechten Seite befand sich ein Treppenhaus mit einem offenen Lastenaufzug in der Mitte. Sie betraten die Ladefläche, die junge Frau drückte auf den unteren Knopf, und sie fuhren in die Tiefe. Der Schacht war nur sehr spärlich beleuchtet, und der junge Mann fand keine Markierungen auf den verschiedenen Ebenen, so dass er schnell den Überblick verlor, wie weit sie schon nach unten gefahren waren. Langsam und behäbig, manchmal bedrohlich quietschend, verrichtete der Aufzug seine Arbeit. Als die letzte Leuchte über ihnen verschwand, wurden sie langsam von der Dunkelheit verschluckt. Endlos schienen sie durch die Finsternis zu fahren, bis er schließlich glaubte, eine Lichtquelle unter sich wahrnehmen zu können. Am unteren Ende des Schachtes angelangt, hielt der Aufzug an, und sie stiegen aus.
6.
Habe ich etwa diese schreckliche Krankheit, die das Hirn löchrig macht, es aufweicht wie einen Schwamm? Die Krankheit, die einen vergessen lässt, wer die Menschen in der Umgebung sind, wer die geliebten Menschen in der Nähe sind, ja sogar, wer man selbst ist? Nein, diese Krankheit kann es nicht sein, schließlich weiß ich, wer ich bin. Oder bin ich nur ich in einem frühen Stadium der Krankheit, weil ich weiß, wer ich bin, aber ich nicht weiß, wer ich war? Dann würde ich allmählich alles vergessen, was ich jemals gelernt und erlebt hatte. Am Ende würde nur eine leere Hülle von mir übrig bleiben, umherirrend und nach Antworten suchend, ohne die Fragen zu kennen. Aber woher kann ich wissen, dass ich an dieser Krankheit leide? Warum bin ich mir dieser Tatsache bewusst?
Am nächsten Morgen stand der alte Mann bei Sonnenaufgang auf. Da in den Räumen und den Fluren überall Teppichboden auslag, konnte er barfuß seine Wohnung verlassen. Das Gebäude war
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