Nicht die Welt (German Edition)
weg, um dorthin zu laufen.« Sie stiegen ein und fuhren los.
Anscheinend handelte es sich um eine Elektrobahn, da der Antrieb sehr leise war. Schwere Stahltüren befanden sich in regelmäßigen Abständen in Einbuchtungen des Stollens. Beim Vorbeifahren konnte er große Buchstaben in phosphoreszierender Farbe darauf erkennen. Jedes Mal, wenn sie eine der schweren Notfalltüren aus Stahl querten, wurde die Bahn langsamer. An diesen Stellen waren verschiedene Strahlenschutzbunker miteinander verbunden worden. Still saßen die beiden nebeneinander, ohne sich anzusehen. Nachdem sie mehr als hundert Meter gefahren waren, brach er schließlich das Schweigen: »Ich kann nicht hier bleiben. Ich glaube, ich weiß, wo der Heckenschütze ist. Ich muss zum Hauptgebäude des Innenministeriums. Ich muss verhindern, dass er noch mehr Menschen tötet.«
»Warte bis zum Morgen«, sagte sie und im gleichen Augenblick hielt die Bahn an der Stahltür »K« an. »Hier hat mein Bruder gelebt.« Der Nebenstollen hinter der Tür war hell erleuchtet und als eine Art unterirdisches Gewächshaus in Benutzung. Die verschiedenen Pflanzen, die hier kultiviert wurden, hatten jedoch keine optimalen Wachstumsbedingungen und blieben sehr klein. Die beiden gingen weiter, bis sie eine Tür zu einem größeren Raum mit dreistöckigen Feldbetten öffnete. Sie legte sich auf eines der unteren Betten. »Komm‘ zu mir«, sagte sie. Er sah sie lange Zeit an. Kann sie die Richtige sein? Ist das möglich?, fragte er sich.
»Komm‘ zu mir«, wiederholte sie. Er legte sich neben sie auf das schmale Bett. Eine Weile lagen sie still nebeneinander. »Warum hast du deinen Bruder eigentlich so angeschrien?«, fragte er schließlich.
»Ich wollte unbedingt, dass er mit mir kommt, die Gläubigen hier verlässt. Aber er wollte nicht. Ich wusste, dass er sterben wird, wenn er bei ihnen bleibt. Und jetzt ... jetzt ist er tot. Und es ist meine Schuld.« Er drehte sich zu ihr um und streichelte ihr Gesicht. Sie legte ihre Hand auf seine. »Glaubst du an das ewige Leben oder ist da nichts mehr, wenn wir tot sind?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn ich aber zu den Sternen sehe ... so unendlich weit entfernt von uns ... und das Licht findet trotzdem seinen Weg zu jedem einzelnen von uns. Alles, was wir tun, hinterlässt Spuren. Das Licht eines weit entfernten Sterns erreicht uns, wenn er längst vergangen ist. Warum sollten andere Wesen unsere Lebensmuster nicht empfangen, wenn wir schon lange tot sind? Auf diese Weise können wir unser Leben in den Augen anderer nochmals leben.«
»Werden sie uns richten?«
»Ja ... das wünsche ich mir.« Sie schauten sich tief in die Augen und küssten sich.
Als der junge Mann wieder erwachte, wusste er nicht, wie lange er geschlafen hatte. Ohne eine Uhr gab es hier tief unter der Erde keinerlei Orientierung, um welche Tageszeit es sich handelte. Die junge Frau war verschwunden. Er legte die weiche Baumwolldecke zurück, stand auf und zog sich an. Nachdem er in den sanitären Anlagen gewesen war, bemerkte er einen Schreibtisch in einer Ecke des Schlafsaals. In der oberen Schublade fand er ein großes Buch. »Regeln für Missionare«, stand darauf. Es handelte sich um handschriftlich eingetragene Verhaltensmaßregeln. Als er die Seiten überflog, verstand er, dass die strengen Vorschriften dazu gedacht waren, den Missionar auf ein Leben in Neustadt vorzubereiten. Nach der Hälfte des Buches änderte sich die Handschrift, und es waren danach ausschließlich persönliche Erfahrungen und Gefühle niedergeschrieben worden, die mit einem Datum versehen waren: »Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, zu viel wird von mir verlangt ... Mein Platz ist in Neustadt ... Ich bin der Auserwählte«, stand dort immer wieder. Der letzte Eintrag, der vor ungefähr vier Jahren geschrieben worden war, lautete: »Ich bin der Anfang und das Ende, ich bin der Erste, und ich werde der Letzte sein.« Neben den Eintragungen fand der junge Mann häufig ein Zeichen an den Seitenrändern, das er gut kannte. In Neustadt war es überall zu finden. In Gold eingefasst hing es auch hinter dem Schreibtisch seines Auftraggebers. Nach dieser Handschrift konnte er noch vier weitere identifizieren. Die letzte stammte offensichtlich von einem von Schuldgefühlen geplagten Menschen: »23. Juni ... Ich vermisse meine Familie. Ich hätte sie nicht verlassen dürfen ... 4. September ... Ich hoffe, dass
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