Nicht die Welt (German Edition)
haben. Die Stromversorgung ist an den großen Strahlenschutzbunker gekoppelt und wird von den Eisheiligen garantiert. Außerdem kann ich hier unten viel besser unser Digitalfenster schützen. Da es in der Stadt nicht viele gibt, ist es sehr begehrt.«
Der junge Mann sah sich im Raum um. Überall waren Flaschen mit schwarzer Brause und Tüten mit Salzgebäck und frittierten Kartoffelscheiben verteilt. »Woher habt ihr eigentlich die Nahrung, die hier überall rumliegt? Das gibt es doch alles nur in Neustadt, oder?«
»Wir haben dort Helfer. Sie bringen uns mit einem Drehflügler in die Nähe des steinernen Tors alles, was wir hier nicht bekommen können«, antwortete der Spinner.
»Helfer?«
»Ja, sie geben uns Nahrung, Kleidung und Medikamente und was wir sonst noch so brauchen. Und ... und sie versorgen unsere Familien in Neustadt.«
»Warum tun sie das?«
»Als Gegenleistung teilen wir ihnen über das Digitalfenster mit, welche Strahlendosis wir abbekommen haben und wie unser Gesundheitszustand ist.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Der Spinner schaute nun sehr mürrisch. »Schau, eigentlich wurden wir von einem Unternehmen angeworben, welches die Langzeitfolgen der Strahlung auf den jungen menschlichen Körper studieren will.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber es stört uns nicht, dass wir von ihnen nur als Versuchskaninchen benutzt werden. Wir verfolgen unsere eigenen Ziele. Darin kommen diese Leute nicht vor.«
»Menschenversuche sind in der Neuen Ordnung noch möglich?«
»Nur weil die alte Tyrannei abgelöst wurde, heißt das nicht, dass die Herrschaft der Wenigen alle Missstände beseitigt hat. Zumal viele der Mächtigen nur Scheindenker sind.«
»Was meinst du mit Scheindenkern?«
»Na, Einfaltspinsel, die intelligente Menschen und ihre Verhaltensweisen nur nachahmen, um an der Spitze der Gesellschaft leben zu können.«
»Aber in Neustadt gibt es doch die Freiheit des Einzelnen, jeder kann seine eigenen Entscheidungen treffen.«
»Was bedeutet diese Freiheit, wenn es keine Gleichheit gibt?«, fragte der Spinner und verschränkte seine Arme. »Diese Gleichheit, von der wir alle träumen, diese Gleichheit gibt es bei uns nicht. Da muss man sich schon an einen Ort fernab der Realität begeben ... und damit meine ich Neuwelt. Dort sind wir alle gleich, egal aus welcher Schicht wir kommen, wie viel Geld wir haben oder wie alt wir sind.« Der junge Mann sah ihn verwirrt an und schwieg. »Schaut doch, geht zum Fenster und seht nach, ob ich recht habe«, sagte der Spinner und zeigte auf das Digitalfenster. Die junge Frau schüttelte den Kopf, während der junge Mann nickte. »Ihr dürft es benutzen, sobald es frei ist. Aber jeder bekommt hier nur eine halbe Stunde Zeit. Mehr ist nicht möglich. Das gilt für uns alle, auch für mich.« Der Spinner schlug mit der Handfläche auf seine Brust. »Wenn ihr fertig seid, klopft an meine Tür, ich möchte euch noch etwas mitgeben«, sagte er, bevor er in den Nebenraum ging und die Tür schloss.
Der junge Mann und die junge Frau setzten sich auf eine der bequemen Sitzgelegenheiten und warteten. »Haben die Wesen in Neuwelt ein Bewusstsein?«, fragte sie nach einiger Zeit.
»Nein, sie werden zwar von jemandem mit Bewusstsein gesteuert, bleiben selbst aber seelenlose Hüllen«, antwortete er.
»Sie haben aber eine Seele, solange sie gesteuert werden, denn wenn meine Seele meinen Körper verlässt, ist er auch nur noch eine leere Hülle.«
»Nein, wir sind untrennbar mit unserem Körper verbunden. Unser Körper ist unser Bewusstsein und unser Bewusstsein ist unsere Seele«, wandte er mit Nachdruck ein. Sie glaubte ihm nicht und lächelte milde. »Schau, es ist so ähnlich wie in einem Traum: Wenn ich von dir träume, hast du selbst kein eigenes Bewusstsein, obwohl du in meiner Welt existierst«, fügte er hinzu.
»In Neuwelt kannst du aber nicht wissen, ob eine Figur deiner eigenen Vorstellungskraft entspringt oder bereits von jemandem kontrolliert wird. Dann hätte sie ein Bewusstsein, ohne dass du selbst es weißt«, entgegnete sie unbeeindruckt.
Das Digitalfenster war nun frei und der junge Mann beeilte sich, dorthin zu gehen. Einige Minuten in Neuwelt werden reichen, um meinen Eltern zu sagen, dass es mir gut geht, dachte er. Nachdem er die Kapuze nach hinten gezogen und die Schutzbrille beiseite gelegt hatte, setzte er sich unverzüglich das Seh-Sprech-Eingabegerät auf den Kopf und blickte gebannt auf den Schirm. Nach
Weitere Kostenlose Bücher