Nicht die Welt (German Edition)
kurzer Zeit sah er die ersten Bilder, wild und ungeordnet. Langsam konnte er sie in Beziehung setzen. Er befand sich nun in Neustadt, zog die Straßen entlang, suchte die ihm vertrauten Orte. Er sah seinen Bezirk, die Orte seiner Jugendzeit, sah das Haus seiner Eltern, kam ihm näher, immer näher. Plötzlich erschien jemand vor dem Haus, andere gesellten sich hinzu, es war nun eine Gruppe, die Gruppe wuchs zu einer riesigen Menge an, immer mehr, er wurde von ihr zurückgedrängt, immer weiter entfernte er sich vom Haus seiner Eltern. Bald war er vollständig umgeben von Gesichtern und Stimmen. »Hast du das Papier gefunden?«, hörte er die Stimmen fragen.
»Woher wisst ihr, dass ich hier bin?«
»Deine Reise ist uns nicht verborgen geblieben, sie ist zu wichtig«, sagte eine Stimme und eine andere ergänzte: »Lasst ihn sich ausruhen, er ist bestimmt müde.«
»Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann. Die Aufgabe ist zu schwierig für eine einzelne Person, niemand kann sie alleine schultern, diese Last ist übermächtig, sie erdrückt dich von innen. Ich verliere mich in dieser Stadt«, rief er verzweifelt.
»Hört ihr, er schafft es nicht alleine, er braucht Hilfe«, sagten weitere Stimmen.
»Ich kann nicht mehr, lasst mich in Ruhe«, wandte er ein. Jetzt war eine Stimme aus dem Hintergrund zu vernehmen, deutlicher als die anderen Stimmen zuvor: »Das muss jetzt reichen, es wollen auch noch andere das Fenster benutzen.« Es war einer der Spinner, der seine Zeit am Digitalfenster beendete. Der Bildgeber verdunkelte sich. Es war vorbei.
Der junge Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte sich die Kapuze wieder auf, legte die Schutzbrille an und rückte die Staubmaske zurecht. Als die junge Frau die Enttäuschung in seinen Augen sah, umarmte sie ihn. Gemeinsam gingen sie zur Tür des Spinners, und er klopfte an. Nach einer Weile hörten sie seine Stimme: »Ja, kommt rein.« Sie betraten einen Raum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet war. Der Spinner lag auf einem Sofa und reckte sich.
»Du wolltest uns etwas geben?«, fragte der junge Mann. Der Spinner nickte und gähnte ausgiebig, bevor er sich langsam erhob. Er ging zu einem Eisenschrank und öffnete ihn. Etliche Waffen befanden sich darin, vor allem ältere Modelle.
»Hier hast du eine alte Pistole, noch aus Kriegszeiten, tötet aber immer noch zuverlässig«, sagte der Spinner.
Der junge Mann nahm die Waffe entgegen und betrachtete sie. »Hast du nicht eine Schallpistole für mich?«, fragte er.
»Nein, nein, es darf keine Gnade geben. Der Tod des Heckenschützen steht fest und es ist deine Bestimmung, ihn zu töten. Deshalb bist du hier. Und du kannst es nicht verhindern.« Der Spinner war nun voller Zorn. »Schließlich handelt jeder Mensch so, wie er von der Natur programmiert wurde. Es gibt da keinen Spielraum. Vielleicht ändern sich die Schauplätze, Umstände und handelnden Personen, aber deine Entscheidungen in bestimmten Situationen stehen schon bei deiner Geburt fest. Dein Schicksal legt das Wo und Wann fest, deine Bestimmung das Wie . Jeder hat in dieser Stadt seinen Platz. Das Gleichgewicht kann man nicht verändern. Und du, mein Freund, du bist auserwählt, unser Racheengel zu sein.« Der Spinner fasste sich an den Bauch, krümmte sich und stöhnte. Im selben Augenblick zog er eine kleine Dose aus seiner Tasche. Es war ein starkes Schmerzmittel, das in Neustadt weit verbreitet war. Der Spinner nahm einige Pillen davon ein und zerkaute sie gierig. Er bemerkte, dass ihn der junge Mann dabei mitleidig ansah. »Ja, guck mich an, ich bin ein Wrack, die Schmerzen sind manchmal unerträglich, es gibt keinen Schlaf mehr für mich, keine Ruhe mehr. Aber es ist nicht die Strahlung, es ist ein Gendefekt, der in meiner Familie liegt und die männlichen Nachkommen schon in jungen Jahren dahinrafft. Und die einzige Genugtuung, die ich jetzt noch habe, ist, dass ich länger lebe als der Heckenschütze.« Der Spinner lachte bitter. »Es wird Zeit für euch zu gehen«, sagte er und gab jemandem mit Tätowierungen im Gesicht und an den Armen, der auf einem Sofa im Vorraum saß und gerade frittierte Kartoffelscheiben in sich hineinstopfte, ein Zeichen.
»Da ist noch etwas ...«, sagte der junge Mann zögerlich. »Weißt du, wo sich das Papier befindet?«
»Das Papier? Nein! Du bist unser Racheengel, nicht unser Retter. Unser Retter, das bin ... geht jetzt!«, schrie der Spinner, drängte den jungen Mann und die junge Frau aus seinem Zimmer
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