Nicht die Welt (German Edition)
auf dieser Ebene über eine Tür verlassen mussten. Die junge Frau legte gerade ihre Staubmaske ab, als der junge Mann einschritt und ihre Hände ergriff. »Mach das bitte nicht.«
»Warum ist dir das so wichtig? Wahrscheinlich sind wir sowieso schon verseucht!«
»Das weißt du aber nicht. Solange wir es nicht wissen, müssen wir vorsichtig sein.«
»Ich glaube nicht, dass diese Schutzkleidung irgendwas bringt.«
»Darauf kommt es eigentlich gar nicht an. Es ist wichtig, dass wir alles Mögliche tun, um nicht kontaminiert zu werden. Also müssen wir immer achtsam sein.«
»Und auch Dinge tun, die sinnlos sind?«
Er wusste zunächst nicht, was er darauf antworten sollte, bis er an den alten Priester in der Kirche dachte. »Mhm, schau dir doch mal einen Gärtner an, der mit seinen Pflanzen redet. Das Reden an sich ist ja auch vollkommen sinnlos, letztlich hilft aber die Einstellung des Gärtners, nämlich die Zuneigung und Fürsorge, die er seinen Pflanzen entgegenbringt.«
»Ich bekomme aber keine Luft mehr unter dem Ding.«
»Ja, ich weiß, mir geht es genauso. Kannst du die Staubmaske für mich tragen?«
Sie lächelte. »Solange du bei mir bist, werde ich es tun. Solange du bei mir bist, mein Liebling.«
9.
30 Meter. Der junge Mann und die junge Frau hatten den Bunker der Gläubigen hinter sich gelassen und waren weiterhin im weit verzweigten Netz der unterirdischen Welt unterwegs, um zum alten Steintor zu gelangen. Die Treppenhaustür des Aufzugsschachtes fiel hinter ihnen zu und ein langer, schmaler Flur, in dem überall Unrat lag, befand sich vor ihnen. Ratten wühlten in den Abfällen und flüchteten, als die beiden sich näherten. Hinter der Tür am Ende des Flurs lag ein wesentlich kleineres Treppenhaus ohne Aufzug. Da der Weg nach oben wiederum blockiert war, gingen sie die Stufen nach unten. Aus der Ferne hörten sie Geräusche und Stimmen. Sie gingen durch mehrere kleine Räume, die zu einem älteren Bunker gehörten, der noch aus dem Krieg stammte. Erst als sie in einen größeren Vorraum kamen, wurde dem jungen Mann bewusst, dass sie sich in jenem Bunker aufhielten, dessen Besuch in der Grundschule ein Pflichttermin war.
Mehrere Jugendliche und junge Erwachsene hielten sich hier auf, die meisten von ihnen saßen auf weichen Sitzgelegenheiten in den Ecken und entspannten sich. Ein süßlicher Geruch lag in der rauchgeschwängerten Luft. Niemand schien sie zu bemerken. In der Mitte des Raums stand ein Digitalfenster und darüber hing ein Spruchband, auf dem in großen Buchstaben stand:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.«
Mehrere Jugendliche standen um das Digitalfenster herum und waren in Neuwelt gefangen.
»Nicht schon wieder die Eisheiligen! Könnt ihr nicht da bleiben, wo ihr hingehört? Ich denke, ihr habt Neuwelt abgeschworen?«, fragte jemand aus einer Ecke des Raums. Als sie sich umdrehten, sahen sie einen Mann, der mit weit aufgerissenen Augen neben einer Tür stand. Er wirkte fahrig, wie ein getriebenes Tier, das von seinen Jägern gehetzt wurde. »Es hat uns schon lange niemand mehr von euch besucht«, fuhr er fort.
»Wir gehören nicht zu den Gläubigen«, wandte der junge Mann ein.
»Gläubige? Das sind sie für dich? Wie kannst du so etwas denken? Der Glaube ist für den Einzelnen bestimmt, unaussprechlich in seiner Natur, zwischen den Menschen ist Glaube in Wahrheit Macht. Die Macht über andere.«
»Wovon redest du?«, fragte der junge Mann.
»Die Menschen können mit Gott nicht umgehen. Sein Name wird von ihnen immer missbraucht werden, um andere zu unterdrücken.«
»Aber die Gläu ... ähm ... Eisheiligen haben mir geholfen, ohne selbst etwas zu verlangen.«
»Ja, ja, schon gut, es kümmert mich eigentlich auch nicht, was sie denken. Die Leitlinie in dieser Stadt ist ,Leben und Leben lassen‘. Es gibt hier genügend Platz für alle. Und da deine Gläubigen dieses Gesetz beachten, respektiere auch ich sie. Fehler hat schließlich jeder. Weißt du, wie die Eisheiligen uns hier nennen?« Der junge Mann nickte. »Diese Bezeichnung ist zweifellos zutreffend«, sagte der Spinner. Er blickte einen Moment lang auf den Boden, bevor er den jungen Mann und die junge Frau erneut ansah. »Aber nun zu euch: Wer seid ihr und was wollt ihr hier?«
»Wir sind von draußen und wollen zum Innenministerium«, bemerkte der junge Mann kurz und bündig, wobei er selbst nicht glaubte, dass sich der Spinner mit dieser
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