Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
Vom Netzwerk:
worden war, in jener nun
schon fern-legendären Zeit, als es noch Drachen und Minnesänger, Kammerzofen
und Dienstmädchen gab.
    Sein enges Verhältnis zu Sebastián ähnelte dem eines älteren Bruders
zum jüngeren. Der Kleine war schlicht fabelhaft. Intelligent und gelehrig,
dankbar und herzlich. So, dachte Karl, muß einmal mein eigener Sohn werden. Er
blendete den Umstand, daß Sebastián das Produkt einer konservativ-bürgerlichen
Erziehung war, nicht einmal aus. Das gleiche galt ja auch für ihn selbst, und
trotzdem war aus ihm ein denkender Mensch, ein Kommunist geworden. Vielleicht
war es gar nicht so verkehrt, Kinder mit bürgerlichen Werten großzuziehen, bevor
sie das selbstständige Denken lernten und Klassenbewußtsein entwickelten.
Sebastián war ein Wesen, das einem ob seiner Reinheit und Gutmütigkeit Tränen
der Rührung entlocken konnte. Bald schon würde die Pubertät über ihn
hereinbrechen und den Zauber zerstören.
    Könnten nur alle Kinder als Zwölfjährige auf die Welt kommen, dachte
Karl, und dann ein paar Jahre lang zwölf bleiben.
    Die Rosarios behandelten ihren Untermieter bald wie ein
Familienmitglied. Als würde ihre Scheu, ihre Vorsicht ja doch zu nichts mehr
nütze sein, teilten sie mit Karl ihre Sorgen und Ressourcen. José Rosario galt
als Frührentner infolge seiner asthmatischen Anfälle. Es stellte sich heraus,
daß er jene arg dramatisierte, um nicht in einer Fabrik arbeiten zu müssen. Zuvor war er Ballettdirektor am Liceu gewesen, ihm hatten sogar sieben Prozent dieses
riesigen Opernhauses gehört. Nach der Revolution wurde das Liceu verstaatlicht und in Teatre Nacional de Catalunya umbenannt. Eine gute Maßnahme, urteilte José Rosario, damit wollte die Regierung
den Prachtbau, dieses Sinnbild bürgerlichen Glamours, vor dem Haß der
Anarchisten schützen. Jetzt, sagte José, gehört mir nichts mehr davon, aber
wenigstens steht es noch, das ist wichtiger.
    Die Rosarios hatten in etlichen Generationen Ersparnisse angehäuft,
die nun unweigerlich zur Neige gingen. Josés Münzsammlung hatten sie bereits
verkauft und das gesamte Mobiliar des Speisezimmers, einen herrlichen
Teakholztisch samt acht dazugehörigen Stühlen. Noch gab es ihr Ferienhaus in
Mallorca, doch das zu veräußern, schien beinahe unmöglich. Mallorca war fest in
der Hand der Faschisten. Karl begriff, daß die Rosarios den Sieg Francos
herbeisehnen mußten, und er zeigte, was ihn selbst verblüffte, ein gewisses
Verständnis dafür.
    Hin und wieder besuchte er seine medizinischen Seminare,
doch längst nicht mit derselben Hingabe wie wenige Wochen zuvor, als er Mila
ein guter Gatte und Ernährer beziehungsweise den Opfern des Krieges ein
kundiger Arzt hatte werden wollen. Im Grunde vertrieb er sich Zeit und Langeweile,
ohne von einem tieferen Sinn des Ganzen beseelt zu sein. Sebastián etwas
beizubringen, das war ein Mikrokosmos, ein Refugium, und schien doch
effektvoller, unmittelbarer als vieles andere. Er unterrichtete den Jungen
längst nicht mehr nur in Latein. Auch Mathematik, Französisch und die
Grundlagen simpler Philosophie brachte er ihm bei. Darüber hinaus alles
mögliche. Clara Rosario war eine begabte Haushälterin, abends stand immer etwas
auf dem Tisch, womit sie alle satt bekam. Karl hatte, als er bei Ines auszog,
einige Vorräte an Reis und Nudeln mitgehen lassen, quasi als Morgengabe, und
wirklich fußte die Entscheidung der Rosarios, den deutschen Kommunisten bei
sich aufzunehmen, zu einem nicht geringen Teil auf nahrungstechnischen
Erwägungen.
    Es war ein erträgliches Leben, das Karl führte, von einem
Tag auf den anderen, von der Hand in den Mund, ohne Horizont und höhere Idee.
Viel Geld war ihm nicht verblieben, aber er benötigte wenig, gab kaum etwas
aus, leistete sich keinen Becher Kaffee zuviel. Sich derart in Askese zu üben,
barg sogar einen gewissen Reiz, der ihm erlaubte, mit der Situation
einigermaßen zufrieden zu sein, angesichts des Leidens, in das dieser Krieg so
viele Menschen stürzte. Zum ersten Mal dachte Karl darüber nach, Spanien zu
verlassen. Glaubte man den neutralen Kommentatoren, war Francos Sieg nach dem
Fall Madrids ohnehin nur eine Frage der Zeit. Doch Madrid hielt der Belagerung
stand, Tag um Tag, Monat um Monat. Die Republik erholte sich sogar überraschend
und brachte die Offensive der Putschisten zum Erliegen. Ebenso überraschend war
Karls Begegnung mit Vati, die am ersten Junimorgen in der Aula der Universität
stattfand. Es stellte sich heraus, daß

Weitere Kostenlose Bücher