Nicht ganz schlechte Menschen
Schweigegeld. Das ehemals freundschaftliche Verhältnis zwischen den
beiden Männern war dadurch, daß Chapelle seine Verachtung gegenüber Ellie so
unverblümt zur Schau trug, nicht besser geworden.
Geising reagierte, ganz gegen seine sonstige Art, zornig und
herausgefordert.
Er hätte
Chapelle vor die Tür setzen können, mit der Begründung, daß die Beziehung eines
Hotelmanagers zu einem Mitglied des Personals gegen jede Etikette verstieß.
Allerdings mußte Rücksicht auf Chapelles Mitwisserschaft genommen werden.
Pierre zog Max und Ellie zu Rate. Karl, der immer noch keine Ahnung
hatte, welche unerlaubten Dinge im Monbijou vorgingen, wurde außen vor gelassen.
Wieviel will er denn haben? Fragte Max.
Das hat er nicht gesagt.
Dann ist es keine Erpressung. Gib ihm einfach mal hundert Francs
mehr und warte ab, ob er sich damit zufriedengibt.
Aber der Saukerl bezieht ohnehin schon 1300 Francs im Monat. Dafür
könnte ich den Chefkoch des Charles V verpflichten. Irgendwo hat auch meine Großmut
ihre Grenzen.
Max und Ellie hatten Pierre noch nie so wütend erlebt. Anscheinend
war der Hotelier sich bewußt geworden, von Faktoren abhängig zu sein, denen er
zuvor weder Aufmerksamkeit noch Respekt geschuldet hatte. Die Angst, daß ihm
etwas über den Kopf wachsen könne, versetzte ihn in Panik.
Chapelle, hätte er davon erfahren, wäre erstaunt gewesen. Keinen
Moment zog er ernsthaft in Betracht, Pierre Geising die Pistole auf die Brust
zu setzen. Er hätte sich mit einem Bonus von fünfzig Francs bereits
zufriedengegeben, hätte danach, voller Zuversicht auf die Zukunft, der tumben Blanche
ein Kind eingeflößt. Als ihm Pierre schließlich eine einmalige Sonderzahlung
von dreihundert Francs offerierte, zahlbar am Tag der Eheschließung, dankte
Xavier mit einem ergebenen Händedruck. Sein erstes Kind, so es ein Junge werde,
wolle er Pierre nennen. Geising mißverstand das Kompliment seines verliebten
Angestellten als Sarkasmus. Von dieser Meinung brachte ihn auch Xaviers Angebot
nicht ab, bei der Hochzeit als sein Trauzeuge zu fungieren. Pierre fühlte sich
provoziert und auf den Arm genommen.
Was war sonst so los?
In
Paris hob die Polizei ein großes Waffenlager aus, das für einen rechtsextremen
Putsch vorbereitet worden war. Die Regierung des Léon Blum war im Sommer
gescheitert. Die Volksfront aus Liberalen, Sozialisten und Kommunisten existierte
aber weiterhin, nun unter dem neuen liberalen Ministerpräsidenten, Chautemps.
In der Sowjetunion wurden monatlich Todesurteile an Hunderten angeblicher
Volksfeinde vollstreckt.
An
der spanischen Front wurden mal von dieser, mal von jener Seite Geländegewinne
gemeldet. Während es im Frühling noch nach einem schnellen Sieg der
Nationalisten ausgesehen hatte, richtete man sich nun auf einen langen Fortgang
des Krieges ein. Seit August gab es eine neue politische Polizei, den komplett
vom sowjetischen Geheimdienst NKWD beherrschten SIM (Servicio de Investigación
Militar). Die Opposition aus Anarchisten und Linkskommunisten wurde
unterdrückt, ihr Führer, der ehemalige Ministerpräsident Largo Caballero, am
21. Oktober verhaftet.
Am
selben Tag fiel die Stadt Gijon, die einzige verbliebene rote Bastion
Nordspaniens, in die Hand Francos. Auch die letzten Truppen, die noch an die
Nordfront gebunden waren, konnten nun gen Osten in Marsch gesetzt werden. Mit
Asturien ging auch eine wirtschaftlich bedeutende Provinz verloren. Die
Regierung zog von Valencia nach Barcelona um. Zwischen dem Ausland und dem
republikanischen Spanien war aufgrund der faschistischen Seeblockade nur noch
die Pyrenäengrenze offen. Die Rebellen zogen auch in der Truppenstärke gleich.
Jeweils etwa 700.000 Mann standen sich nun gegenüber.
Karl, damals frisch erschüttert und aufgerüttelt durch
Brechts »Gewehre der Frau Carrar«, begann über eine Rückkehr nach Spanien
ernsthaft nachzudenken. Ihm war klar geworden, daß er bei einem zweiten Anlauf
mit einer grundlegend anderen Einstellung in den Kampf ziehen mußte.
Pazifismus, die große geistige Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, schien
nicht geeignet, den Problemen des 20. Jahrhunderts beizukommen.
Wesentliche
Entscheidungen im Leben eines Menschen hängen mit dessen Verhältnis zum Tod
zusammen. Tatsächlich macht es für die meisten einen großen Unterschied, ob sie
mit dreißig oder siebzig sterben. Wie sie diese Jahre leben, ob sinnvoll oder
nicht, ob erfüllt oder nicht, ist zweitrangig. Ich selbst gehöre zu
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