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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Pigalle in Montmarte, wo es etliche
ähnlich geartetete Lokale gab, die sich dumm und dämlich verdienten, fanden
eben oft auch Razzien statt. Weil korrupte Polizeichefs, verständlicherweise,
mitverdienen wollten. Kunst sei in Ordnung, Exklusivität und Toleranz
auch, aber auf kleiner, windgeschützter Flamme.
    Max fügte sich der Zurechtweisung. Fortan wurde im Monbijou Wert auf Etikette gelegt. Oft mußten die Besucher erst die Lesung eines
minderwertigen Poeten oder den Lichtbildvortrag eines Südamerikaforschers
ertragen, bevor sie sich endlich zur Musik von Akkordeon, Klarinette und Geige
lasziv bewegen durften. Gleichgeschlechtliches Poussieren und Küssen war
ausdrücklich nicht erwünscht. Niemand konnte dem Monbijou einen Vorwurf
machen. Als die Polizei tatsächlich einmal erschien, war es wegen einer
Eifersuchtsszene, in deren Verlauf eine verliebte Tunte einer anderweitig
verliebten Tunte ein Glas Erdbeerbowle ins Gesicht geschüttet hatte. Die
Hoteldirektion distanzierte sich von dem bedauerlichen Vorfall.
    Karl, der noch wenige Wochen zuvor ein so strikter
Verächter des Alkohols gewesen war, gewöhnte sich immer mehr das Trinken an.
Die Euphorie, dem spanischen Irrsinn entkommen zu sein, verflog viel zu schnell
und hinterließ ein Gefühl bohrender Leere. Paris war eine wunderbare Stadt, in
der es eine Fülle von Möglichkeiten gab, sich irgendein Wohlgefühl abzuzwingen.
Aber in Barcelona, so kam es Karl inzwischen vor, hatte er die beste Zeit
seines Lebens genossen, denn dort war er geliebt worden, von Mila, Sebastián
und irgendwie sogar von diesem elenden Subjekt namens Ines oder Juan. Er hatte
nie hungern müssen, trotzdem war keine Mahlzeit selbstverständlich gewesen. Er
war als Radioprotokollant einer gewiss sinnvollen Tätigkeit nachgegangen. Und
wenn die Genossen in ihrer Paranoia wohl hier und da überreagiert haben
mochten, so doch stets für eine gute, klare Sache, an deren Ausgang etliches
hing. Oft dachte er an Mila. Ein neunzehnjähriges Mädchen. Schnippisch,
liebreizend, lebhaft. Wo sie nun war, ob tot oder lebendig? Was sie ihm an den
Kopf geschleudert hatte, daran erinnerte sich Karl kaum noch. Mädchen mit
neunzehn sind eben so. Wissen es nicht besser. Das Spiel Max’ und Ellies mit Pierre
Geising, den er für einen sympathischen, patenten Menschen hielt, blieb ihm
undurchschaubar. Ihm genügte die Einsicht, daß er damit nichts direkt zu tun
haben wollte, ansonsten hielt er sich nach Möglichkeit heraus. Wenn Pierre ihn
auf seine Halbschwester Ellie ansprach, nickte er beflisssen, egal, wonach
genau er gefragt wurde. Wieder kam er sich wie jemand vor, der geduldet und
mitgeschleppt wurde, ein fünftes Rad am Wagen. Zudem lebte er, notgedrungen,
vom Geld seines Bruders, der ihm immer mal wieder einen Fünfziger oder
Hunderter in die Hand drückte. Max bereitete es Freude, den Bruder zu
unterstützen. Das entstandene Abhängigkeitsverhältnis genoß er aber auch.
    Karl brauchte nicht viel. Das war für ihn der einzige Weg, sich zu
wehren. Er aß und schlief im Hotel. Und tröstete sich, oft erfolglos, mit dem
Gedanken, daß es so vielen Menschen schlechter ging als ihm. In einem Bericht
des Völkerbunds wurde die Lage von etwa zwanzigtausend deutschen Emigranten in
Europa als elend beschrieben. Das sprach ihm aus dem Herzen. Doch bekam er nicht nur Mitleid zu
spüren.
    Einmal, als Karl seine Betrübnis zu sehr herauskehrte, nahm Ellie
ihn an der Hand, zog ihn auf den Balkon, deutete mit einem lauten Ei Kukke !
auf den unter einem Regenbogen liegenden Süden der Stadt und meinte: Zieh mal bloß nicht
sone Jammerflappe wie’n geschredderter Schwan. Biste lebendig und gesund ausm
Krieg zurück und immer noch blutjung. Was soll ich’n da sagen?
    Karl lächelte pflichtschuldigst. Ellie meinte es zweifellos gut.
Hatte auf ihre Weise sogar recht. Würde sie je ein Verständnis dafür entwickeln, daß es Menschen gab,
die nicht in kleinbürgerlichen Maßstäben dachten? Er sah seinem Bruder oft
dabei zu, wie er sich für das Hotel engagierte, voller Fleiß und
Zielstrebigkeit, und daraus auch noch Spaß zu beziehen schien. Das konnte doch
nicht wahr sein. Dieser Max war ihm neu und unheimlich. Hatte der Schwärmer
sein hochfliegendes, zu den Sternen zielendes Ego gegen eine Krämerseele
getauscht? Steckte mehr dahinter als einzig der Wunsch nach einer gesicherten
Verortung im bourgeoisen Butterdöschen? Karl hatte mitbekommen, daß Ellie
sowohl mit Pierre als auch nach wie vor mit Max

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