Nicht ganz schlechte Menschen
Pierre
nicht weiter. Ellie fragte ihrerseits nicht nach, worin die Überraschung
bestehen würde. Für den Fall, daß Pierre etwas Gemeines im Sinn hatte, ließe
sich ohnehin nichts dagegen unternehmen.
Zwei, drei Wochen lang herrschte Ruhe. Max und Karl
erhielten relativ problemlos eine Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung.
Die zweite Soso im Oktober war die vielleicht gelungenste all jener Veranstaltungen. Arthur
Koestler las aus seinem jüngst erschienenen romanhaften Gefängnis-Tagebuch EIN SPANISCHES TESTAMENT , worin er seine existentielle
Angst nach dem Fall von Malaga verarbeitete. Man hatte ihn als
Franco-kritischen Journalisten eingekerkert, per Standgericht zum Tode
verurteilt, und nur durch unfaßbar großes Glück erlangte er nach Monaten über
einen Gefangenenaustausch seine Freiheit zurück.
Es war eine dichte, intensive Lesung, die alle Zuhörer gleichermaßen
bedrückte und begeisterte.
Karl kam nicht umhin, den Autor um seine erlittene Erfahrung zu
beneiden. Und ihm für sein Buch zu gratulieren. Die Furcht vor der unmittelbar
bevorstehenden eigenen Auslöschung könne als literarisches Stimulans ( Kraftfutter ,
wie er sich konkret ausdrückte) nicht hoch genug bewertet werden. Vielleicht
wolle er selbst einmal über jene finsteren Zeiten Zeugnis ablegen, er schwanke
noch. Sein Vertrauen in die eigenen literarischen Fähigkeiten sei begrenzt.
Koestler, der überaus sympathisch auftrat, riet Karl unbedingt dazu, sich
Erlittenes von der Seele zu schreiben. Literarische Kompetenz trete
rücksichtsvoll in den Hintergrund, wo die geschundene Kreatur nur
wahrheitsgetreu und erhellend über sich berichte.
Karl versprach, darüber
nachzudenken. Nach der Lesung, kaum daß Koestler mit dem Signieren seines
Buches fertig war, sprang ein halbes Dutzend junger Ballerinas auf die Bühne.
Zu den Melodien einer Offenbach-Operette warfen sie mal das rechte Bein und mal
das linke in die Luft. Die eben noch betretene Stimmung wich im Nu einer
locker-gedankenlosen. So war Paris. Max, sonst kein Freund von Gemeinplätzen,
bemängelte an
den Franzosen , da wurde er pauschal, den fehlenden heiligen
Ernst, die Unlust, sich einer Sache voll und ganz hinzugeben. Er warf ihrem
Gemüt die Unmöglichkeit einer konsequenten Euphorie vor. Ihn, obschon er von
Wagner wenig verstand und auch kein Nationalist war, berauschten
Zeitungsberichte, laut denen am Ende einer Götterdämmerung ein
deutsches Opernpublikum kollektiv aufgestanden sei und die Nationalhymne
gesungen habe. Über der Asche der alten Götter die Vision einer neuen
Menschheit zu begrüßen – und sei es eine faschistische, das war in diesem Fall
egal –, einen solchen Gänsehautmoment zu erleben, stellte er sich als
seelischen Orgasmus vor. Dieser Grad aufgeladener Erhabenheit,
hoffnungsgefüllter Ekstase, das Loslassen der Individualität, wie man einen
bunten Ballon zugleich mit Tausenden anderen Ballons in den Himmel schickt, als
Fanal, so etwas wäre kleinkrämerischen Franzosen nunmal nicht zuzutrauen.
Die
haben immer eine Hand im Hosensack beim Wechselgeld, und ihre Marseillaise
singen sie wie einen Schlager, zu dem man schunkeln kann. Franzose sein, heißt
eine Sache um ihrer Zinsen willen zu tun.
Ellie wußte nicht, worüber genau Max redete. Manchmal kamen ihr
seine Kommentare bedenklich bis unheimlich vor, immer entschuldigte sie ihn
damit, daß er eben gerne provoziere. Ihr Blick fiel auf Heinrich.
Was machte er denn hier?
Richtig, sie hatte ihm Hilfe in einer Notlage versprochen. Konnte er
Eduard mitgebracht haben? Oder Eduard ihn? Nein, offensichtlich war Heinrich
ohne Begleitung gekommen. Sollte sie nun auf ihn zugehen? Oder warten, bis er
seinerseits an sie herantrat? Der Junge würdigte sie keines Blickes.
Geflissentlich übersah er ihr freundliches Winken. Vielleicht wollte er nicht
auf sich aufmerksam machen. Auch Pierre bemerkte ihn nun und warf ihm quer
durch den Saal irritierte bis grimmige Blicke zu, als fürchtete er für das
Niveau des Abends. Es war dann Max, der sich neben Heinrich setzte und ihm ein
Glas Sekt spendierte. Der Pole
wirkte wenig glücklich, als würde ihm ein Almosen angeboten. Er schob
das Glas demonstrativ beiseite. Es roch nach Ärger. Die Tanzdarbietung war noch
in vollem Gange, als Ellie aufstand und sich durch den Saal in Richtung der Bar
kämpfte. Sie nahm rechts neben Heinrich Platz und berührte den Ärmel seines
Mantels sanft mit zwei Fingern.
Heinrich saß, obwohl jetzt, Mitte Oktober, das Hotel
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