Nicht ganz schlechte Menschen
verlören, als daß ein
Schuldiger seiner Strafe entkäme. André Marty war für den Tod Milas
verantwortlich, niemand sonst. Dennoch blieb ein schrecklicher Verdacht. Was,
wenn der große Genosse Stalin selbst ein kranker Mensch war? Das schien sehr
unwahrscheinlich, ja, aber zuletzt doch nicht völlig unmöglich. Karl, der
Politik stets als manichäischen Kampf und den Kommunismus als Aufstand des
Guten wider das Böse begriffen hatte, tat sich mit dem Umstand schwer,
einzusehen, daß hinter den Programmen immer Menschen standen, Menschen, die
gewisse Eigenschaften besitzen mußten, um ihre Führungsposition zu erlangen.
Und dies waren gewiß nicht nur positive Eigenschaften. Karls Weltbild geriet
ins Wanken. Wo alles zuvor so einfach gewesen war, sinnstiftend simpel,
euphorisierend, ging ihm die Lust am Leben verloren. Einmal ertappte er sich
dabei, das Kabel der Stehlampe zu einer Schlinge geknüpft zu haben.
Ich kann die Welt, wie sie ist, doch nicht mit sich allein lassen,
dachte er dann und schleuderte das Kabel in die Ecke. So feige würde er nicht
sein, niemals.
Die letzten Oktoberwochen in Paris waren wunderbar. Mehr
allgemein, durch das anhaltend schöne Wetter und die Farbpracht der Bäume, im
Speziellen aber auch für einige Bewohner des Monbijou .
Max feierte ständig neue, waghalsige Ideen für seinen Roman. Ellie
und Pierre versuchten, ein Kind zu zeugen. Um genau zu sein, Pierre versuchte
es und Ellie hatte nichts dagegen, in der festen Überzeugung, es könne ohnehin
nicht klappen. Konnte es auch nicht, da sie sich ihm immer nur an sicheren
Tagen hingab.
Karl besiegte die Schwermut, indem er für sein Studium büffelte.
Worüber, wenn nicht über Sport und Wetter, wurde geredet? Die
Polizei verstärkte den Kampf gegen unerwünschte Fremde. Das Netz der Razzien
zog sich enger zusammen. Das Gebiet von
Paris wurde für neuen Zustrom verboten und eine Sondersteuer erwogen,
für Ausländer, die in Frankreich einen selbständigen Beruf ausübten. Max und
Karl hatten sich mit diversen Tricks davor gedrückt, je Abgaben leisten zu
müssen. Sie galten offiziell noch immer als Touristen bzw. Studenten, die sich
hier und da als Tagelöhner etwas dazuverdienten. Nachdem Ellie französische
Staatsbürgerin geworden war, drohte ihren Brüdern so etwas wie eine plötzliche
Abschiebung kaum noch. Nur waren sie, was Karl und Max manchmal vergaßen, gar
nicht Ellies Brüder, nicht einmal ihre Halbbrüder. So sehr hatten sie sich an
ihre Rolle schon gewöhnt. Sie fühlten sich einigermaßen sicher. In den Pässen
des deutschen Reiches fanden die Namen der Eltern des Inhabers keine Erwähnung,
und nur über den Mädchennamen ihrer angeblich gemeinsamen Mutter hätte der
Schwindel auffliegen können. Es gab allerdings umgekehrt auch nicht den
geringsten Anhaltspunkt, geschweige denn Beweis, für eine Verwandtschaft
zwischen den dreien. Es sei denn, man half etwas nach, und das geschah dann auch. Ellie ging aufs Amt und beantragte
einen Paß. Sie mußte ein langes Formular ausfüllen und indiskrete Fragen
beantworten. Als Namen ihrer Mutter trug sie Hedwig Fischer ein.
Niemandem fiel das auf, niemand prüfte es nach – wie denn auch? –, und schon
war sie mit Karl und Max verwandt. Ihre deutschen Papiere verbrannte Ellie zur
Sicherheit. Das mußte begossen werden.
Was im Ausland geschah, war Sache der Zeitungen,
Trockenfutter für Druckerpressen, kein Thema für das Monbijou . Man nahm davon
widerwillig und am Rande Kenntnis, indem man die Schlagzeilen las, wenn
überhaupt. Hitler, dieser strahlende Triumphator, ging allen einfach nur auf
die Nerven.
Zwischen
dem 28. und 29. Oktober 1938 wurden in der sogenannten
Polenaktion
zahlreiche
Juden verhaftet. Die Maßnahme betraf sowohl polnische Staatsbürger, die in
Deutschland lebten, wie auch jene ehemaligen Polen, die 1919 die deutsche
Staatsbürgerschaft erhalten hatten, welche ihnen das Nazi-Regime nun jedoch
aberkannte. Waren Juden bisher als Bürger zweiter Klasse behandelt worden, aber
wenigstens als Bürger, galt von nun an der Grundsatz, daß Staatsbürger nur ein
Volksgenosse sein könne. Volksgenosse könne aber nur sein, wer deutschen Blutes
sei. Der oberste Parteirichter Walther Buch formulierte am 21. Oktober in der
Zeitschrift
Deutsche Justiz
, daß der Jude kein Mensch sei, sondern eine
Fäulniserscheinung, ein Schädling der gesunden Volksmasse.
17.000
Menschen wurden in Eisenbahnwaggons an die deutsch-polnische Grenze geschafft.
Dort wurden
Weitere Kostenlose Bücher