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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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eine fürchterlich tragische Geschichte war,
aber die Essenz verstand sie immer noch nicht.
    Karl hat Zanoussi ins Gesicht getreten, weil der ihm die Nachricht
von Milas Tod übermittelt hat? Wovon er längst wußte?
    Nein, viel schlimmer. Pierre schilderte den Ablauf, wie er ihn
verstanden hatte.
    Zwei Brüder Milas haben bei den Faschisten gedient. Sind in Gefangenschaft
geraten und gefoltert worden, und haben die eigene Schwester denunziert.
    Pierre erzählte die Geschichte, wenn auch ohne Absicht, etwas
tendenziös. Wer vom SIM gefoltert wurde, sagte aus,
was er wußte, auch wenn er nichts wußte. Milas Brüder hatten einfach nur
erwähnt, eine Schwester auf der anderen Seite der Front zu besitzen. Was ihnen,
so hatten sie gehofft, als mildernder Umstand in Rechnung gestellt werden
würde. Beide wurden erschossen.
    So eine Schweinebande! Ellie brauchte einen weiteren Cognac.
    Mila sei in Verdacht geraten. Irgendein Sowjetkommissar habe nicht
glauben wollen, daß unter dem Dach ein und derselben italienischen Familie
solch divergente politische Ansichten vertreten sein könnten. Mila sei in
Untersuchungshaft genommen und beinahe schon vergessen worden, wie das vielen
Menschen passiert in Kriegszeiten. Dann sei ihr Name plötzlich in abgefangenen
Funksprüchen aufgetaucht, das habe man als Beweis ihrer Schuld gewertet. André
Marty, ein angeblich etwas geisteskranker Funktionär der KP ,
habe persönlich den Befehl zu ihrer Hinrichtung erteilt.
    Ellie senkte das Glas. Ihr schoß es heiß durch die
Schläfen.
    Du meinst, das Mädel starb, weil Zanoussi auf Karls Bitte hin diese
Funksprüche senden ließ?
    Jetzt hast du es kapiert.
    Einige Minuten lang herrschte Stille im Zimmer. Ellie
dachte nach.
    Weiß Max davon?
    Keine Details. Der hat seit neuestem nichts als seinen Roman im
Kopf.
    Es bleibt die Tatsache, daß du mich belogen hast. Du
wüßtest Zanoussis Adresse nicht, hast du behauptet.
    Ellie, wenn das alles ist, was von dieser Sache an dir kleben
bleibt, nehm ichs auf meine Kappe. Trink aus, laß uns schlafen gehen.
    Warum läßt du Zanoussi Lebensmittel liefern?
    Weil er sonst verhungern würde.
    Ellie löschte das Licht. An Schlaf war nicht zu denken.
    Pierre?
    Ja?
    Ist jetzt wirklich alles vom Tisch? Oder gibt es noch etwas, das ich
wissen sollte?
    Es kam lange keine Antwort. Dann endlich meinte Pierre,
sie solle mal den Brockhaus wälzen, darin stünde Wissenswertes zuhauf.
    Seltsam zufrieden mit dieser Auskunft, dennoch leicht
beleidigt, rollte Ellie sich an den äußersten Rand des Bettes, umarmte ihr
Kissen und hielt für diesmal den Mund.
    Die erste größere Krise ihrer Ehe schien überstanden. Bevor ihr
gegen vier Uhr morgens doch noch die Augen zufielen, dachte sie darüber nach,
wie sehr das, was ist und wirkt, nicht unbedingt sein und wirken muß, sondern
einzig Beschlüssen und Zulassungen entspringt. Jeder Mensch lebt in einer
anderen Welt, je nachdem, was er zuläßt oder nicht.
    Max, dem sie am Morgen davon erzählte, nickte zustimmend. Hätte es
Schopenhauer nicht gegeben, wäre die Lücke nun durch Ellie geschlossen.
    Machst du dich über mich lustig?
    Im Gegenteil, ich bin stolz auf dich. Ehrlich.
    Max erfuhr von Ellie nichts über die Motive, die Karl dazu
getrieben hatten, gegen Zanoussi gewalttätig zu werden. Sie sah ein, sich mit
ihrer Neugier, ihrer Einmischung, ihrem permanenten Mißtrauen falsch verhalten
zu haben, und gelobte dem Badezimmerspiegel Besserung. Auch Karl gegenüber, dem
sie viel Zuwendung schenkte, deutete sie mit keinem Wort an, daß sie etwas von
dem wußte, was ihn bedrückte. Das war allerdings vergebliche Mühe, denn allein
durch die Tatsache, daß Ellie sich so auffällig um ihn kümmerte, konnte Karl
darauf schließen, wieviel sie bereits wußte. Was sie nicht wußte, war, weshalb
Karl eine ernste Krise durchlitt, die bis hin zu Selbstmordgedanken führte. Der
Grund war nicht Milas Tod, nicht einmal die Umstände, die dazu geführt hatten.
All das konnte vernünftig, mit einfühlsamer Selbstbeschwichtigungsrhetorik,
bewältigt werden. Karl zweifelte zum ersten Mal an seinem politischen Glauben.
Das einzige, was ihn trösten und entlasten konnte, war der Name jenes André
Marty, den Zanoussi erwähnt hatte. Nicht die Partei hatte Mila getötet, sondern
dieser André. Ein Einzelfall, ein bedauerlicher kranker Mensch, der die
Radikalmathematik der guten Sache erfunden hatte, der den Grundsatz vertrat,
daß im Zweifelsfall lieber neun Unschuldige ihr Leben

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