Nicht ganz schlechte Menschen
hatte, schloß er bald aus, daß sie zu einem
Kapitalverbrechen fähig war. Aber vielleicht hatte er sich täuschen lassen. Sie
habe, sagte sie, von Zanoussis Existenz erst durch Ellie erfahren, die sich –
aus welchem Grund? – nach ihm erkundigt hatte. Aus welchem Grund. Aus welchem
Grund. Er sah in seinen Notizen nach: Um Zanoussis Adresse zu erfahren. Um
Zanoussis Adresse zu erfahren? Sie hatte alle möglichen Leute danach gefragt,
zuletzt den Küchenjungen. Warum hatte sie nicht einfach und vor allen anderen Pierre danach gefragt? Und falls sie ihn danach gefragt hatte, warum hatte Pierre
die Adresse nicht herausgerückt? Weil Ellie ihm den Umgang mit Zanoussi
verbieten wollte, gut. Warum wollte sie ihm den Umgang mit Zanoussi verbieten?
Perecs Gedanken drehten sich im Kreis, ihm wurde ganz schwindlig.
Irgend etwas, das war ihm klar, enthielt irgendwer ihm vor. Aber wer, was und
warum? Ging es um Geld? Der Racheakt eines Gläubigers war denkbar. Etliche der
Buchmacher, denen Xavier Geld schuldete, waren nicht eben für ihre Geduld
bekannt. Wenn dem so war, würde man es nie herausbekommen, höchstens durch
einen Zufall.
Ging es um Eifersucht? Xavier Chapelle hatte seine Frau geschlagen,
obwohl sie schwanger gewesen war. Das kommt selten vor bei so kurz miteinander
verheirateten Paaren der Mittelschicht. Meistens dann, wenn der Mann den
Verdacht hegt, das Kind stamme nicht von ihm.
Bisher hatte Perec mit dem Gedanken gespielt, Ellie könne eine
heimliche Affäre gehabt haben, mit Chapelle, vielleicht sogar mit Zanoussi.
Oder gar beiden? Er hatte schon viel Abgründigeres erlebt in seiner langen
Laufbahn als Kriminaler. Die Welt strotzte vor Unwahrscheinlichkeiten, eben
weil sie groß war und vieles in ihr möglich. So banal das klang, man mußte es
sich immer wieder deutlich machen. Perec sah ein, daß er sich da wohl in etwas
verrannt hatte und dabei war, die letzten Wochen seiner Arbeitszeit sinnfrei zu
vergeuden. Er spannte die beiden Gummiringe über den Aktendeckel und gab sich
geschlagen. Eine Schublade ging auf, wie ein riesiger Rachen. Perec hielt inne.
Plötzlich erhellte sich sein Gesichtsausdruck, und er schnaufte laut seinen
gesamten Lungeninhalt durch die Nase aus. Ihm war eine Idee gekommen, wie dem
Wissenschaftler eine Theorie zufliegt, die alle Fakten und Wahrnehmungen zu
etwas Sinnvollem verwebt. Es war im Grunde so naheliegend, so logisch, daß er
sich beinahe schämen mußte, nicht gleich daran gedacht zu haben.
Am
20. April, der zum deutschen Nationalfeiertag erklärt wurde, beging Adolf
Hitler seinen 50. Geburtstag. Die Planungen für einen Angriff auf Polen waren
bereits in vollem Gange. Hitler war durch seine Erfolge zu selbstbewußt
geworden, um von seiner Unbesiegbarkeit, seiner geschichtlichen Sendung, nicht
überzeugt zu sein.
Am 21. April wurden Karl und Max Loewe verhört. Sie fügten
sich der Befragung, obschon sie kurzfristig erwogen hatten, möglichem Ärger aus
dem Weg zu gehen und abzutauchen.
Karl blieb sehr ruhig, lieferte sachliche und schlichte
Charaktereinschätzungen aller für den Fall relevanten Personen. Beinahe nichts
von dem, was er von sich gab, erregte Perecs Interesse in irgendeiner Weise.
Bis auf Karls lebhafte Schilderung als Augenzeuge, der Zanoussi in Barcelona
erlebt hatte. Als blutgierig und rücksichtslos. Starken Stimmungsschwankungen
unterworfen. Natürlich geisteskrank, doch mit Methode.
Max gab sich gänzlich ahnungslos und aufsässig. Fragen beantwortete
er oft mit Gegenfragen. Er habe keine Zeit, er müsse ein Buch schreiben. Perec
konfrontierte ihn mit dem Umstand, daß er, etlichen Zeugenaussagen zufolge, ein
recht enges Verhältnis zu seiner Halbschwester pflege.
Das, gestand Max ein, sei wohl der Fall. Was verstehe er unter einem recht engen Verhältnis? Dürften Geschwister sich nicht gern haben, oder was?
Perec ging darauf nicht näher ein, er gab Max insgeheim recht,
niemand war so weit gegangen, etwa von Inzest zu reden. Und substanzloser
Klatsch durfte keine Rolle spielen.
Habe Ellie Geising sich bei ihm öfters einmal über das Betragen
ihres Gatten Pierre beklagt?
Wie definieren Sie öfters ? Wie definieren Sie beklagt ? Und vor allem:
Was geht Sie das verdammt nochmal an?
Wie bitte?
Was ist das hier? Was wollen Sie von mir? Worum geht es?
Das möchte ich mit Ihrer Hilfe herausfinden.
Sie finden hier sicher auch ohne meine Hilfe heraus.
Wie bitte?
Na los, das alles geht von meiner Lebenszeit ab.
Perec stellte noch ein
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