Nicht ganz schlechte Menschen
täuschen. Jeden anderen
vielleicht. Ihn nicht.
Perec war oftmals todtraurig darüber, daß jemand wie er, mit seiner
Erfahrung, mit seinen kombinatorischen Gaben, in den Ruhestand geschickt werden
sollte. Pure Verschwendung war das. Niemand hatte Perecs kriminologischen
Esprit je ausreichend zu würdigen gewußt. Wie oft war er bei Beförderungen
übergangen worden, weil er das falsche Parteibuch besaß? Längst schon hätte er
Polizeipräsident von Paris sein müssen. Niemand hatte eine ähnlich hohe
Aufklärungsstatistik vorzuweisen. Niemand . Aber gut, er hatte gelernt, daß das Leben kein
Wunschkonzert ist, daß man zufrieden damit sein mußte, bei passabler Gesundheit
und inzwischen vierundsechzig genossenen mitteleuropäischen Sommern fast nie
gehungert zu haben.
Am
28. April 1939 wurde der deutsch-polnische Nichtangriffspakt einseitig von
Deutschland aufgekündigt. Jedem denkenden Menschen, hätte man annehmen können,
mußte damit klar sein, daß ein Krieg unmittelbar bevorstand, aber viele, die
glaubten, besonders klar denken zu können, hielten den Vorgang für einen Bluff
Hitlers, mit dem Ziel, Polen zu einem neuen Abkommen zu zwingen, unter für
Deutschland viel günstigeren Bedingungen. Das hörte sich auch logisch an, denn
Hitler, gesetzt den Fall, er würde Polen wirklich angreifen wollen, würde ja
dumm sein, einen bevorstehenden Angriff durch die Kündigung des
Nichtangriffspaktes quasi anzukündigen. Hitler behauptete in einer voller
Spannung erwarteten Rede sogar, kein Mensch in Deutschland denke daran, etwas
gegen Polen zu unternehmen. Und auch mit England, das eben die Wehrpflicht
eingeführt hatte, sei trotz dieser Drohgebärde Einigung und Freundschaft
möglich. Der amerikanische Präsident Roosevelt meinte in einer ersten Reaktion,
Hitler habe die Türen zum Frieden in Europa einen Fingerbreit offengehalten.
Die meisten Franzosen bewahrten Ruhe und strahlten einen
sagenhaften Optimismus aus, nur die jungen Männer begannen darüber zu
spekulieren, ob sie bald eingezogen würden. Auch in den U -Bahn-Gesprächen
der jungen Frauen war dies ein Thema. Niemand aber wollte sich den kommenden
Sommer vermiesen lassen. Paris war ohnehin schon prachtvoll genug und voller
Lebensfreude, nun stand auch noch der Mai ins Haus. Doch Max verließ immer
seltener sein Zimmer, als müßte er um die Wette schreiben, als hätte er einen
unverschiebbaren Abgabetermin. Die Sosos fanden nur noch einmal im Monat statt,
da Max sich nicht mehr alleine darum kümmern wollte. Ellie sollte das tun. Zum
Beispiel Joseph Roth becircen, damit er aus seinem Leviathan las, den die
Pariser Tageszeitung im letzten Jahr abgedruckt hatte. Der schwer
alkoholsüchtige Autor sagte auch zu, hatte seine Zusage aber am nächsten Tag
schon vergessen. Daran erinnert, tat es ihm sehr leid, und er versprach sich
erneut für Ende Mai. Am Sonntag, dem 30. April, konnte man deswegen nur ein
recht braves bis maues Programm bieten. Ellie ließ sich etwas einfallen. Sie
bat Markowitz, den dubiosen Filmproduzenten, ihr auszuhelfen. Er brachte einen
Projektor, eine Leinwand und einen Film vorbei, der dann als Überraschungscoup
kurz vor Mitternacht vor einer geschlossenen Gesellschaft gezeigt wurde. Es
handelte sich um einen pornographischen Streifen mit zwei Männern und zwei
Frauen, ein leger choreografiertes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel mit der
Darstellung aller anatomisch denkbaren Verbindungsmöglichkeiten. Max schämte
sich in Grund und Boden und überlegte, wie er seinem Publikum gegenüber so
etwas rechtfertigen sollte. Untergrundkunst? Erotische Avantgarde? Tabubruch?
Pierre starrte fasziniert hin und war zu gebannt, um die fünfzehnminütige
Vorführung abzubrechen. Im Saal herrschte Schweigen, man vernahm kaum ein
Hüsteln. Als das Licht anging, brach stürmischer Applaus los. Der Pianist griff
in die Tasten, alle tanzten. Die Bar verzeichnete einen Rekordumsatz. Später
wurde darüber nicht mehr geredet.
Am ersten Mai traf für Karl ein Brief aus Barcelona ein, den
er gierig aufriß, aufmerksam las, dann lustlos aus den Händen gleiten ließ.
Mein lieber Karl,
ich will dir heute einmal schreiben, auf daß wir einander nicht
vergessen und damit du weißt, daß wir noch leben. Meine Eltern und ich denken
oft an die guten Stunden mit dir, in denen uns so etwas wie Kultur möglich
gewesen ist und ich in dir eine Art großen Bruder haben durfte. Ich bete, daß
du uns eines Tages besuchen kommen kannst, wenn es in der Welt ruhiger
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