Nicht ganz schlechte Menschen
kramte er in seinen Notizblättern.
Pierre Geising hatte ausgesagt, Perec las die Passage laut vor, man rede von einem
bis dato zuverlässigen, verdienstvollen Angestellten, der sich in letzter Zeit
öfter einmal in eine Art Stundenexil zurückgezogen habe .
Naja, so sei er eben, sagte Luc. Großzügig. Sehr großzügig und
dickfellig.
Dickfellig, aha. Hatte er sonst noch Grund dazu?
Wie meinen Sie das bitte?
Konnte er sich Ellies, ich meine Madame Geisings Treue sicher sein?
Wie soll ich das wissen?
Es gibt in einem Hotel doch sicher Gerüchte, Gemunkel. Fest steht,
daß Chapelle mehr als nur ein Auge auf Geisings Gattin geworfen haben muß. Und
Monsieur Geising soll das kalt gelassen haben? Hat er nicht eifersüchtig
reagiert?
Keine Ahnung. Bis eben wußte ich davon nichts. Ich bin der
Küchenjunge.
Und Ihr Name ist Hase, natürlich.
Nein, Bouchard! Ich weiß wirklich nicht, worauf Sie abzielen.
Im Moment weiß ich das auch nicht so genau. Perec grinste
selbstironisch und reichte Luc die Hand. Sie können gehen. Merci.
Im Monbijou machte man sich allerhand Gedanken darüber,
warum der Selbstmord eines mittellosen Mannes die Polizei derart beschäftigte.
Am Tathergang konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, die Wohnung des
Anarchisten war von innen abgeschlossen gewesen, und es existierte ein
Abschiedsbrief.
Max gab zu bedenken, daß Zanoussi bestimmt viele Geheimnisse mit ins
Grab genommen habe. Wer unter den hier versammelten Menschen könne behaupten,
ihn auch nur halbwegs gekannt zu haben? Vielleicht verfüge die Polizei über
ganz ungeahnte Informationen, die den Bereich der nationalen Sicherheit
beträfen. Es sei auf jeden Fall sehr unvorsichtig gewesen, sich mit ihm
einzulassen, ihn gar noch zu verköstigen.
Karl und Pierre nahmen die Spitze als Vorwurf gegen ihre Person
wahr. Karl erklärte zum hundertsten Mal, daß er Zanoussi nicht nach Paris
eingeladen habe, das sei ein dummes Mißverständnis gewesen. Und Pierre fand,
daß er sich keine Vorhaltungen gefallen lassen müsse, nur weil er einem
Hungernden zu essen gegeben habe. Essens reste , sagte er dazu, sich
verbessernd, die ohnehin in den Müll gewandert wären.
Paris
stand in jener Woche noch unter dem Eindruck eines kürzlich zu Ende gegangenen
aufsehenerregenden Prozesses, dessen Einzelheiten man Tag für Tag gespannt in
der Presse verfolgt hatte. Eugen Weidmann, ein gebürtiger Deutscher, war mit
diversen Komplizen angeklagt gewesen, sechs Touristen erschossen und ausgeraubt
zu haben, bevor er nach einem spektakulären Schußwechsel mit der Polizei
verhaftet und am 31. März zum Tode verurteilt worden war. Weidmann sah blendend
aus und gab vor Gericht eine elegante Figur ab. Die populäre Schriftstellerin
Colette ließ sich mit dem Satz zitieren:
Schade um seinen hübschen Kopf.
Das gesellschaftliche Bewußtsein war durch Weidmanns
unverhältnismäßige Greueltaten geschärft. Sie hinterließen deutliche Spuren im
Unterbewußten eines jeden, der darüber reflektierte. Vielleicht hätte in einer
anderen, entspannteren Atmosphäre ein Ermittler wie Odilo Perec weniger
Ambition und Aufmerksamkeit gezeigt. Vielleicht spielte gar die Tatsache eine
Rolle, daß Pierre Geising ein gebürtiger Elsaß-Deutscher war.
Perec verhörte noch weitere Angestellte des Monbijou . Sie alle
schienen nichts Genaues zu wissen. Immerhin erfuhr er so erstmals von der
Existenz der beiden Brüder Ellies. Halbbrüder, genaugenommen, von deutscher
Nationalität, die bei der Leitung des Hotels eine offenbar nicht zu
unterschätzende Rolle spielten. Über Karl Loewe existierte eine dünne Akte. Er
hatte, wenn auch vor Jahren, einen wenn auch ganz harmlosen Artikel in der Pariser
Tageszeitung veröffentlicht und war dementsprechend dem Umfeld der extremen
Linken zugeordnet worden. Max Loewe war nie polizeilich in Erscheinung
getreten. Perec erfuhr weiterhin, daß Geising durchgängig im Hotel
übernachtete, während er die Wohnung in der Rue Gabrielle seit dem Tod seiner
ersten Gattin praktisch nicht mehr nutzte. Weswegen verkaufte er die Wohnung
dann nicht? Er hatte es anscheinend nicht nötig. Auch die gestohlenen 2000
Francs waren laut freiwillig erteilter Bankauskunft Kleingeld für ihn; das
ergab kein ernsthaftes Motiv.
Wer hätte denn überhaupt das stärkste Interesse an Chapelles
Verschwinden gehabt? Natürlich Blanche, die mißhandelte und gedemütigte
Ehefrau. Perec glaubte, ein gutes Auge für Menschen zu besitzen, und als er
Blanche kennengelernt
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