Nicht ganz schlechte Menschen
Landesverrat. Karl würde sicher ausgewiesen werden, gerade jetzt,
in dieser gespannten politischen Lage, da man mit dubiosen deutschen Emigranten
nicht eben pfleglich umging. Würde er den Verhören standhalten und die Namen
seiner Mittäter verschweigen? Dann würde ihn der Zorn der Behörden erst recht treffen.
Oder würde er, um sich selbst zu retten, die anderen hinhängen? Es mußte
unbedingt etwas getan werden. Erst Pierre, dann Karl. Würden sie am Ende alle
im Gefängnis landen? Oder in einem deutschen Konzentrationslager? Wegen einer
Unbedachtheit? Ihre Sorge war begründet. Es kursierten ganz andere Geschichten.
Täglich wurden Menschen, die weit weniger verbrochen hatten, expediert, über
die Planke (die Grenze) geschickt und den Nazis zum Fraß vorgeworfen.
Karl wäre enorm befriedigt gewesen, hätte er gewußt, wie schlecht
Max und Ellie in dieser Nacht schliefen, während er nacheinander die Körper von
Janine, Mimi und Salomé genoß und nebenbei Champagner im Wert von
zweihundertzwanzig Francs konsumierte. Stockbesoffen ließ er sich gegen vier
Uhr morgens von einer Droschke zum Monbijou befördern, wo er seinen Rausch ausschlief und
zehn Stunden später den Speisesaal betrat. Wie eine übernatürliche Erscheinung.
Er genoß den Auftritt fast mehr als alle Zuwendungen der letzten Nacht.
Ähnlich, dachte er, müsse sich Jesus gefühlt haben, wäre er tatsächlich drei
Tage nach Golgatha den Jüngern erschienen, auferstanden aus dem Grab. Der
Unterschied lag im Frühstücksbuffet. Karl griff zu, biß in ein Nougatcroissant,
ließ sich eine Kanne Kaffee bringen, und einen wunderbaren Moment lang war ihm
der Rest der Welt, der Hunger litt, egal.
Aus Max’ und Ellies Reaktion gewann er die Überzeugung, den beiden
doch abgegangen zu sein. Sie herzten und kosten ihn, um so mehr, nachdem er
erzählte, wie willensstark er die Folter ertragen hätte. Was für eine Folter?
Er wies keine äußeren Symptome irgendeiner Folter auf, aber das war vielleicht
der Raffinesse der Polizeibeamten zuzuschreiben.
Die haben kein Wort aus mir herausgebracht. Zuletzt mußten sie mich
gehen lassen. Aber eines sag ich euch, ihr egoistischen Wichte! Bringt ihr mich
jemals wieder in eine ähnliche Lage, gibt es keine Loyalitäten mehr.
Während der folgenden Wochen geschah nicht viel. Abgesehen
davon, daß immer etwas geschieht.
Die
Organisatoren des Tennisturniers von Wimbledon verweigerten dem wegen guter
Führung vorzeitig aus der Haft entlassenen Gottfried von Cramm aufgrund seiner
Vorstrafe die Teilnahme. In einem Vorbereitungsturnier hatte von Cramm den
späteren Wimbledon-Sieger Briggs mit 6:0 und 6:1 geschlagen. Während sich der
Schatten des Krieges über Europa schob, wurde im Sportteil der Zeitungen
leidenschaftlich über diese Entscheidung debattiert.
Der Anwalt Amirault behauptete, sich gewissenhaft auf
Pierres Prozeß vorzubereiten. Blinder Aktionismus sei denkbar fehl am Platz.
Sein hohes Voraus-Honorar rechtfertigte er damit, zwei Detektive auf die Spur
Xavier Chapelles gesetzt zu haben. Ein lebendiger Chapelle sei die einfachste
und überzeugendste Option, die Hirngespinste des Lieutenant Perec platzen zu lassen.
Ellie, Max und Karl hielten das Hotel soweit ganz gut in Schuß und
planten sogar eine letzte Soso, deren Höhepunkt darin bestehen sollte, den Film
von Weidmanns Hinrichtung zu zeigen. Sie hatten sich bei den Stammgästen ein
wenig umgehört und waren auf riesiges Interesse gestoßen. Karl ereiferte sich
über die Entsetzlichkeit, daß selbst kultivierte Menschen des zwanzigsten
Jahrhunderts ihre Blut- und Sensationsgier derart offen eingestanden.
Leider blieb Johannes Marcowitz, der den dreien noch fünftausend
Francs schuldete, unauffindbar. Karl plagten deshalb keine Skrupel, die
Cine-Kodak-Spezial im Pfandhaus für vierhundert Francs auszulösen und sie für
zwölfhundert Francs an einen Privatmann weiterzuverkaufen.
Max schrieb hingebungsvoll an seinem Roman, und selbstverständlich
transformierte er jenes Elementarerlebnis der Weidmann-Hinrichtung zu einem recht
finster-faszinierenden Kapitel, in dem eine Nebenfigur, der brutale Chef einer
Mörderbande, begleitet vom Johlen der Menge, ihren Kopf einbüßte. Wodurch dieser Kopf aber, auf
höherer Ebene, zur uneinnehmbaren Festung mutierte und, nebst etlichen
Geheimnissen, seine Würde behielt. So, durch die Hintertür, protestierte Max
gegen das Phänomen der Todesstrafe, ohne potentielle konservative Leser zu
verprellen.
Ellie war von
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