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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Mob sei ihm nicht
geheuer, sagte Karl, er liefe als Teil der Menge nur Gefahr, zertreten, wie ein
Sandkorn zermahlen zu werden, drum bleibe er lieber hier oben und hänge sein Transparent
aus dem Fenster.
    Damit du alle Welt auf die Kamera aufmerksam machst? Untersteh dich!
Komm uns bloß nicht in die Quere!
    Ich lasse mich von dir ganz gewiss nicht verscheuchen,
Geschäftemacher!
    Reiß dich mal zusammen! Ellie schlug einen unbeabsichtigt scharfen
Ton an. Du gehst uns auf die Nerven mit deinem Transparent!
    Karl, der Ellie so nicht kannte, schmollte und meinte, dann wolle er
der mittelalterlichen Brutalität auch nicht zusehen, sondern lieber, was er
schon vor Stunden gern getan hätte, eine Mütze Schlaf nehmen. Es war nicht nur
Müdigkeit, die ihn so schnell kapitulieren ließ. Mehr trieb ihn die Angst um
vor der Wunde, die das Bild eines abgetrennten Kopfes in seine Seele brennen
würde. Er streckte sich auf einem der beiden sargschmalen Betten aus und
schlief sofort ein.
    Apropos Geschäftemacher . Max wandte sich an Marcowitz. Hast du
das Geld aufgetrieben?
    Die Banken hatten alle geschlossen. Glaub mir.
    Unten kam es zu tumultartigen Szenen. Der Gefängnisdirektor
beschloß, die Hinrichtung Weidmanns um fünfundvierzig Minuten zu verschieben.
Vereinzelt mußten Gendarmen den Schlagstock einsetzen, um Streitereien zu
schlichten. Fast zehntausend Menschen drängten inzwischen dem Platz entgegen,
der kaum die Größe eines Fußballfelds besaß.
    Viele Leute waren angetrunken und randalierten in den Straßen der
Umgebung. Die Polizei entschloß sich zu einem drastischen Eingriff. Eine
Sperrzone wurde eingerichtet, und Zutritt zum Gefängnisvorhof wurde nur noch
etwa hundertfünfzig Zusehern gewährt, darunter meist Pressevertretern,
Würdenträgern oder Menschen mit Beziehungen. Alle anderen sahen sich außen vor
und reagierten dementsprechend erbost.
    Langsam setzte die Morgendämmerung ein. Marcowitz betete um jede
weitere Sekunde. Um vier Uhr zehn sagte er, nun würde bereits etwas auf dem
Film zu sehen sein. Um vier Uhr zwanzig jubelte er, daß inzwischen sogar
Details erkennbar sein würden. Um vier Uhr zweiundvierzig öffneten sich die
Tore der Haftanstalt. Kurz zuvor war unter dem Beifall der Menge die Guillotine
enthüllt worden.
    Etwas hatte Marcowitz nicht bedacht. Seine Tarnung war eher das
Gegenteil einer Tarnung. Sah man sich vom Platz aus das Haus an, so standen,
wie in allen Häusern ringsum, beinahe alle Fenster offen, und etliche Menschen sahen heraus. Nur vor einem
Fenster war ein Vorhang zugezogen. Was an sich noch nicht so verdächtig war wie
der kleine blinkende Kreis in der Mitte des Vorhangs, wo sich die Strahlen der
aufgehenden Sonne in etwas Gläsernem fingen und reflektierten. Einem Gendarmen,
der vorher schon die Konfiszierung einiger Fotoapparate veranlaßt hatte, fiel
das auf, und er setzte sich in Richtung des Hauseingangs in Bewegung. Wobei er
gegen die Wucht der herandrängenden Menschen nur langsam vorwärts kam.
Marcowitz drückte den Schalter, und die Kamera begann leise zu surren.
    Aufnahme
läuft! Flüsterte er, aufgeregt und glücklich.
    Weidmann, sofern sich das von einem Mann sagen läßt, dessen Hände
auf den Rücken gebunden sind, strahlte Haltung aus. Er trug ein weißes Hemd,
keine Hosenträger. Der Scharfrichter Desfourneaux und seine Helfer waren mit
schwarzen Gehröcken und Hüten bekleidet. Nach der Niederwerfung des
Delinquenten auf das Klappbrett der Guillotine bediente Desfourneaux den Hebel,
der die Lünette fixierte. Nicht so schnell wie gedacht, eher unwirklich
langsam, fiel das Beil. Unmittelbar nachdem Weidmanns Kopf abgetrennt war,
kippten die beiden Assistenten den Rumpf seitlich in eine bereitstehende Truhe.
Von der Niederwerfung des Verurteilten auf das Klappbrett bis zur Abtrennung
des Kopfes vergingen acht Sekunden.
    Marcowitz’ Aufgeregtheit steigerte sich noch, als er den Gendarmen
erkannte, der mit seinem Schlagstock direkt in Richtung der Kamera zeigte und
Kollegen zu Hilfe rief.
    Merde! Wir sind entdeckt. Raus hier! Schnell!
    Er schaltete die Kamera ab, riss das Filmmagazin heraus und rannte
ins dunkle Treppenhaus. Max und Ellie sahen sich kurz an und stolperten ihm
hinterher. Ellie griff in einem Reflex nach ihrer Handtasche und mußte sich
deswegen einen vorwurfsvollen Blick gefallen lassen. Im Erdgeschoß angekommen,
japste Marcowitz bereits nach Luft, er wies wortlos auf den Hintereingang, wo
es hinaus auf den Hof ging, zu den Mülltonnen.

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