Nicht ganz schlechte Menschen
Und ebenjenen Mülltonnen war es
zu verdanken, daß sich ein passabler Weg über die Mauer bot. Sie kletterten,
als ginge es um ihr Leben, landeten in einer engen unbeleuchteten Straße,
hatten die Wahl, nach links oder rechts zu laufen, entschieden sich für links,
möglichst weit weg vom Trubel. Den aufbrandenden Applaus, als Weidmanns Kopf
aus dem Korb gehoben und der Meute gezeigt wurde, bekamen sie nicht mit, ihre
Aufmerksamkeit war mit etwas ganz anderem beschäftigt.
Wir
haben Karl vergessen . Stellte Ellie kreidebleich fest. Sie waren
im Dauerlauf an einen kleinen Park gelangt, wo sie auf einer Bank nach Luft schnappten.
Scheiß
drauf . Sagte Marcowitz. Wir gehen jetzt zum Bahnhof. Uns kann
keiner was.
Ein gespenstischer Strom von Menschen hatte dieselbe Idee. Ellie,
Max und Marcowitz ließen sich in diesen Strom wie in ein heißes Bad hinein.
Karl mußte für sich selber Sorge tragen. Darüber zu debattieren, half für den
Moment nicht weiter.
Als
das Exekutionsareal freigegeben wurde, stürzten etliche Frauen herbei und
tauchten ihre Taschentücher in das Blut auf dem Gehsteig, um ein Souvenir mit
nach Hause zu nehmen.
Die
Ereignisse der Nacht zeitigten Konsequenzen auf höchster Ebene. Wegen des
unbotmäßigen, ja hysterischen Gebarens der Menge ordnete Ministerpräsident
Daladier an, daß künftige Hinrichtungen nicht mehr öffentlich, sondern hinter
Gefängnismauern zu vollziehen seien.
Karl war aus seinem Schlaf gerissen und in Handschellen
zum Verhör aufs nächste Polizeirevier geschleppt worden, wo er, wie es sein
gutes Recht war, die Aussage verweigerte. Die Kamera wurde, ebenso das
Transparent, als Beweismittel sichergestellt. Der entscheidende Beweis aber,
das Magazin mit dem Film, fehlte. Weil der mildgestimmte Polizeichef das Ganze
zudem als Studentenstreich abtat, wurde auf eine Anklage verzichtet und Karl
noch am selben Tag auf freien Fuß gesetzt. Als neuer Besitzer einer
16mm-Cine-Kodak Spezial im Wert von mindestens zweitausend Francs zeigte er
sich mit dem Geschehenen einigermaßen versöhnt. Unversöhnlich jedoch würde sein
Verhältnis zu Max und Ellie sein. Sie hatten ihn schnöde im Stich gelassen,
hatten zuvor deutlich zum Ausdruck gebracht, wie wenig ihnen an seiner Person
lag. Er fuhr nach Paris zurück und nahm Logis im Séjour , einem preiswerten
Hotel am Place de Clichy. Stundenlang starrte er dort die Wand an und bedachte
seine Situation.
Nein, es hatte keinen Sinn, sein Zelt woanders aufzuschlagen, er war
in finanzieller Hinsicht zu abhängig vom Monbijou und, mehr oder
minder, gezwungen, dorthin zurückzukehren. Anders zu handeln würde Max und
Ellie ja nur in die Hände spielen. Sie sollten ihn nicht so leicht loswerden.
Erstmal sollten sie sich ein paar Tage lang Sorgen um ihn machen. Würden sie
sich überhaupt Sorgen machen? Wo sie ihn doch loswerden wollten?
Karl bemerkte die brüchige, ja kindliche Logik seines beleidigten
Denkens. Das macht nichts, sagte er sich. Ich war immer viel zu vernünftig. Er
hatte kaum Geld bei sich, also trug er die Kamera in die nächste Pfandleihe.
Ihm wurden vierhundert Francs angeboten. Das Ding zeige schon deutliche
Abnutzungsspuren, er könne es gerne noch woanders versuchen. Karl verspürte
keine Lust zu feilschen und nahm das Geld, er besaß ja den Pfandschein, konnte
die Kamera jederzeit wieder auslösen. Jetzt wollte er sich erst einmal etwas
Gutes tun und lief schnurstracks in ein Bordell am Montmartre. Ich war immer
viel zu vernünftig, wiederholte er vor sich selbst.
Ellie und Max trieben große Sorgen um. Karl wäre gerührt
gewesen, hätte er dabei zuhören können, welche Vorwürfe sie sich machten. Vor
allem Ellie mochte es sich nicht verzeihen, daß sie sich auf ein krummes
Geschäft mit diesem Marcowitz eingelassen hatte.
Max übernahm einen Großteil der Schuld. Er sei es ja gewesen, der
Marcowitz den Raum gleichsam vermietet habe. Und ich hätte dir widersprechen
müssen, sagte Ellie. Gemeinsam blätterten sie in einem französischen Strafgesetzbuch.
Sie hatten zweifellos Beihilfe geleistet, aber zu welcher Straftat eigentlich?
Das war nicht einfach zu entscheiden. Von grobem Unfug bis hin zu Unterschleif,
Störung der öffentlichen Ordnung, Sabotage oder Erschleichung geheimer
Informationen war etliches denkbar. Die heimliche Filmaufnahme einer
Staatsangelegenheit durch Ausländer, die Karl und Max ja waren, würde
vielleicht gar als Spionage geahndet werden. Im Falle der Französin Ellie
bedeutete das
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