Nicht ganz schlechte Menschen
morgens bis abends damit beschäftigt, Pierre zu
ersetzen. Wie agil und geschickt sie auch war, litt sie doch unter dem
Verdacht, mehr tun zu können. Entscheidendes mehr.
Ihr und den anderen war von offizieller Seite untersagt worden,
Kontakt zu Blanche Chapelle, der Hauptzeugin der Anklage, aufzunehmen. Ellie
hielt sich einfach nicht daran. Eines Morgens, genauer gesagt am 3. Juli, kurz
nach zehn Uhr, klingelte sie an der Tür der Rue Riquet Nummer neun. Blanche bat
sie hinein und bot ihr sogar einen Tee an.
Blanche, Sie können sich ja denken, warum ich hier bin.
Sie möchten mich mit einer großen Summe Geldes bestechen, damit ich
die Aussage zurückziehe?
Nein. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ellie mußte
unwillkürlich schmunzeln. Nein, ich bin hier, um Sie – von Frau zu Frau – zu
fragen, ob es wahr ist. Dem Richter können Sie dann ja etwas ganz anderes
erzählen. Aber mir – die Wahrheit bitte. Hat Pierre mit Ihnen geschlafen? War
es sein Kind, das Sie verloren haben? Ich muß das wissen.
Blanche reagierte verunsichert. Sie fand es reichlich dreist, daß
von ihr eine Auskunft verlangt wurde ohne irgendein dazu passendes finanzielles
Angebot. Dann fiel ihr ein, daß die Geisings ihr bis Ende Juli die Miete
bezahlt hatten. Eine schon recht freundliche Geste, zugegeben.
Er hat nie mit mir geschlafen. Das Kind war von Xavier. Sind Sie nun
glücklich?
Aber warum haben Sie auf der Präfektur etwas anderes erzählt?
Mir wurde Straffreiheit zugesichert.
Das genügt Ihnen, um einen Meineid zu begehen?
Geschworen hab ichs noch gar nicht. Sagen wir doch mal so. Wenn
Xavier lebt, wird sich das Ganze von selbst aufklären. Wenn er tot ist, und
Pierre war es nicht – nun –, wenn er es nicht gewesen
ist, müßte ja vielleicht sogar ich es gewesen sein,
es bleibt ja sonst bald niemand übrig. Deswegen ist es aus meiner Sicht besser,
wenn Pierre angeklagt ist, vor allem, weil er ganz
sicher unschuldig ist und ihm nichts passieren kann. Jeder ist sich selbst der
Nächste, Madame. Ich habe eine ganze Nacht in einer Zelle verbringen müssen.
Das war kein Spaß. Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist. Schrecklich.
Ich verstehe
Ihr Motiv, Blanche, aber Sie können doch niemanden leiden lassen, der
überhaupt nichts Böses getan hat, nur damit Sie Ihre Ruhe haben.
Ach, naja. Es ist ja nur für kurz. Pierre ist ein gestandener Mann,
er wird das ertragen.
Ellie war von dieser Logik genauso amüsiert wie abgestoßen. Ihr
gingen die Argumente aus, als hätte sie eine Verrückte vor sich, die in einer
anderen Welt, mit anderen Gesetzen lebte. Wie sollte man jemanden wie Blanche
behandeln? Ihr drohen? Sie umschmeicheln? Sie kaufen? Ellie wußte es nicht. Der
Besuch jedoch hatte sich bereits gelohnt. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis,
daß Pierre sie nicht hintergangen hatte.
Andererseits gab es dann auch keinen Grund, daß er jemals schuldig
von ihr geschieden werden würde.
Trinken Sie Ihren Tee, Madame, er wird kalt. Ellie schreckte aus
ihren Gedanken hoch und sah in Blanches lächelnd mahnendes Gesicht.
Ich habe keinen Durst mehr, danke. Was werden Sie tun am Ende des
Monats? Haben Sie schon eine neue Bleibe?
Was für eine neue Bleibe?
Nun, die Miete ist nur bis zum 31. bezahlt. Und wir, also mein Mann
und ich, werden Ihnen ganz sicher nicht noch einmal etwas schenken.
Ganz sicher nicht? Nein?
Wie kämen wir dazu?
Dann muß ich mir das mit dem Meineid noch einmal überlegen.
Ellie stand schon halb in der Tür, nun trat sie einen Schritt zurück
in den Flur. Sie war beinahe froh, daß sich eine Ebene ergeben hatte, auf der
man mit diesem Weib nach vernünftigen Vorgaben kommunizieren konnte.
Sie sind unverschämt, Blanche! Aber schön, sagen Sie, was Sie
wollen, ich meine, wieviel Sie wollen. Und dann machen wir einen
schriftlichen Vertrag.
Madame Geising, ich bin vielleicht dumm, aber so dumm auch wieder nicht.
Und ich bin auch nicht gierig. Ist man denn ein schlechter Mensch, wenn man aus
dem, was man hat, etwas macht und gerade nur so viel daraus macht, daß man
etwas anderes, das man hat, nicht verliert? Ich habe mein Kind verloren, meinen
Mann verloren, nun soll ich auch noch meine Wohnung verlieren? Wobei alles, was
ich tun muß, um die Wohnung nicht zu verlieren, ist, damit zu drohen, mit der
Hand auf der Bibel noch einmal das zu sagen, was ich eh schon gesagt habe.
Verstehen Sie mich? Die Drohung allein genügt, damit ich das Dach über dem Kopf
behalte, ich muß noch nicht
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