Nicht ganz schlechte Menschen
nächsten war eine
nicht mehr für möglich gehaltene Intimität wiederhergestellt. Karl schien nur
darauf gewartet zu haben, jemandem in aller Offenherzigkeit seine Nöte zu
erklären. Die im Wesentlichen daraus bestanden, daß er Marie nicht mehr liebte
und die immer wieder verschobene Hochzeit näherrückte, somit die Gründung einer
Familie. Die Wehrpflicht war dagegen ein kleineres Kaliber, jedenfalls schien
Karl gerade keinen Gedanken daran zu verschwenden. Es gab ja vielleicht einen
Weg, aller anfallender Probleme mit einer einzigen Maßnahme Herr zu werden. Am
Ende eines langen Abends einigten sich die Brüder auf die Emigration. Karl
würde die Verlobung mit Marie lösen und Max würde Ellie mitnehmen, sie in
Frankreich oder England, da waren sich die Brüder noch uneins, vielleicht sogar
ehelichen. Mit dem halben Erlös aus dem Verkauf von Karls Wohnung konnten sie
sich eine Zeit lang über Wasser halten, danach würde sich schon irgendetwas
finden. Notfalls konnten sie Nachhilfestunden in Latein und Mathematik geben,
den Fächern, in denen sie sich stets hervorgetan hatten. Sie waren
zukunftstrunken und voller Pläne, die am Ende einer Nacht stringent erscheinen.
Zuletzt warfen sie eine Münze. Kopf bedeutete Paris, Adler aber London. Kopf
gewann, und die Sache war ausgemacht.
Karl fand im Nachhinein Paris sogar besser, denn wenn im deutschen
Reich, wie beide hofften, sich die Nazis bald verausgabt hätten und entmachtet
wären, würde man schneller zurückkehren können in die Heimat.
Marie reagierte hysterisch und schwer enttäuscht, wollte von der
Entlobung so gar nichts wissen, sie erinnerte Karl an den Schwur, den er ihr
gegenüber einmal geleistet hatte. Als er sie eines Nachts unbedingt hatte haben
wollen und seine von der Begierde gelockerte Zunge zur Marionette seines Triebs
geworden war.
Er wiederum nannte Marie kindisch. Es habe sich ja nun hinreichend
gezeigt, daß sie beide füreinander nicht geschaffen seien, weshalb solle man darauf
bestehen, daß da was schief zusammenwachse, zu einer vorhersehbaren
Sollbruchstelle?
Apropos, sagte Marie, ich bin doch keine Jungfrau mehr.
Ja nun, sagte Karl. Er verkaufte die Wohnung für zehntausend
Reichsmark. Ungefähr die Hälfte, zweitausend, ließ er Marie zukommen. Die
maulte, daß er ohne ihre Einwilligung die Wohnung gar nicht hätte verkaufen
dürfen. Und so billig. Tatsächlich hatte Karl zwar die Absicht, aber nie die
Zeit gehabt, ihren halben Besitzanspruch notariell beglaubigen zu lassen. Auch
Max und Ellie machten alles zu Geld, was sie noch besaßen. Max, der fast nichts
mehr besaß, wurde sogar kriminell, er verschaffte sich mit geliehenem Geld
Kokain, das er mit Backpulver streckte und an einen Bordellbetreiber
weiterverkaufte. Er hatte unverschämtes Glück. Der Homosexuelle, der ihm die
zweitausend Mark aus alter Ergebenheit geborgt hatte, ein schon angegrauter
Varieté-Regisseur, wurde über Nacht verhaftet und verschwand in einem
Konzentrationslager. Max war die Sache peinlich, aber für die Unmöglichkeit,
das Geld zurückzuzahlen, konnte er definitiv nichts. Ellie hatte gespart, und
als sie ihrer Mutter von den Emigrationsplänen erzählte, stellte sich heraus,
daß auch die Mutter gespart hatte. Und unter Gewissensbissen litt. Denn ihr,
der waschechten Arierin, drohte keine Gefahr. Ihrem zur Hälfte jüdischen Kind,
das sie leichtfertig in die Welt gesetzt hatte, sehr wohl. Ellie und ihre im
fernen Görlitz lebende Mutter hatten sich nach einem Streit jahrelang nicht
geschrieben, um so herzlicher fiel nun die Versöhnung aus. Ich brauche ja kaum
was zum Leben, sagte die Mutter, ging zur Bank und hob einen stattlichen Betrag
ab, den sie der Tochter in die Hand drückte. Daß du eine Tänzerin geworden
bist, Kind, sagte die Mutter, habe ich dir lange nicht verzeihen können. Es ist
ja auch verrückt, einen Beruf zu ergreifen, den man höchstens zwanzig Jahre
lang ausüben kann. Aber die Dinge sind nun mal, wie sie sind. Nimm das Geld,
mach das Beste draus.
Ellie plagten Skrupel. Andererseits –
Am ersten Januar 1935 bestieg das Trio den Nachtzug über
Mannheim nach Paris. Im selben Wagen befand sich – ausgerechnet – auch
Gottfried Benn, der, vom Völkischen Beobachter als ›Ferkel‹ tituliert, in Hannover
ausstieg, um für das Regime als Stabsarzt zu arbeiten und gegen alle
Anfeindungen eine vorläufige Ruhe zu genießen. Max, Karl und Ellie blieben
sitzen und spielten Pantomime – gegen die innere Aufregung. Die
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