Nicht ganz schlechte Menschen
Charakter, sie
war weder dumm noch faul oder fade, und im Bett gab sie sich hin und wieder
sogar Mühe, ihren Geliebten zu verwöhnen, auch wenn er sein Geschlechtsorgan
vor dem Höhepunkt immer herausziehen mußte, egal, ob da oder dort. Das war im
Rahmen, soviel Karl über Frauen wußte. Marie war eben – im Rahmen. Sie war, mit
anderen Worten, nichts Besonderes. Immer öfter dachte Karl an die warnenden
Worte seines Bruders; ihn beschlich der Verdacht, daß er Marie vielleicht nur
noch heiraten wollte, um vor Max keinen Fehler eingestehen zu müssen. Was
seltsam war, da ihm Max’ Urteil doch völlig egal sein konnte. Daß der Bruder in
großen Schwierigkeiten steckte, war das Letzte, was die wenigen verbliebenen
gemeinsamen Bekannten über Max zu berichten wußten, und auch das nur aus
sekundären Quellen.
Max war inzwischen kein Wohnungsbesitzer mehr. Nach Abzug
aller Schulden blieb immerhin genug Kapital, um eine Weile lang nicht auf
Ellies Einnahmen vertrauen zu müssen. Zur Universität ging er kaum noch, als
Ausrede benutzte er vor sich selbst, daß die Nationalsozialisten starken
Einfluß auf die Lehrpläne genommen hatten. Einige Denker waren verpönt, manches Denken gar verboten. Es fiel
nicht besonders auf, denn ausgerechnet der aufregendste neue Philosoph,
Martin Heidegger, war eben nicht verboten worden, im Gegenteil, der Freiburger
Professor hatte den Nazis seine Aufwartung gemacht, mit einer das Regime
begrüßenden, ja beinahe anschleimenden Rede. Dieser Umstand ließ Max sehr
unsicher zurück. Wenn epochale Genies wie Heidegger oder Richard Strauss kein
Problem hatten, sich mit den Nazis zu arrangieren, sie also nicht als
unmittelbare Gefahr für Frieden und Menschschlichkeit ansahen, wo lag die
Wahrheit? Doch wohl, wie meistens, irgendwo in der Mitte zwischen Dämonisierung
und Verharmlosung. Max litt daran, daß die von ihm verehrten Idole alle nur redeten und schrieben, sie schrieben
kluge und dicke Bücher, erschufen große Kunst, zweifellos, aber sie erreichten
nur einen winzigen Teil der Bevölkerung, während die Nationalsozialisten an den
riesigen Rädern im Innersten der Macht saßen, wo sie handeln konnten und
handelten. Max fühlte sich ständig versucht, Teil jenes Getriebes zu werden,
ein kleines Rad im Räderwerk, aus dem irgendwann ein größeres Rad werden
konnte. Aber was war er denn, was war aus ihm geworden? Ein verkrachter Student
mit Alkoholproblem, ein erfolgloser Pferdewetter, der mit einer alternden Hure
zusammenlebte. Niemand konnte für so jemanden Verwendung finden. Das enorme
Potential, das er einst gehabt hatte, schien für immer verloren.
Ein durch und durch verdorbener Charakter hätte vielleicht immer
noch reüssieren können, durch pure Skrupellosigkeit, auf Gebieten, auf denen
hartherzige und fanatische Subjekte für diverse Drecksarbeit benötigt wurden.
Ein solcher Mensch war Max nun einmal nicht. Mußte er deswegen ein Nichts sein?
Eines Morgens war er am Mehringdamm 32 gewesen, in der Arztpraxis von Gottfried
Benn. Dem er sich nackt präsentierte und den Verdacht äußerte, er habe sich
eine Geschlechtskrankheit eingefangen, verspüre Schmerzen beim Urinieren. Was gar
nicht stimmte. Er wollte mit dem verehrten Dichter ins Gespräch kommen, brachte
aber kaum einen Ton heraus. In diesem Moment verstand er sich als Störenfried,
ihm wurde beim ersten Anblick der Praxis klar, daß der große Dichter nichts so
sehr herbeisehnte wie den Feierabend, um in Ruhe, zeitgenossenfrei, zu dichten.
Insgesamt richtete der etwas mürrisch wirkende Benn acht Worte an ihn: Guten Tag. Ich kann
da nichts erkennen. Wiedersehn. Ein Wort mehr, als Christus am
Kreuz eingefallen waren. Aber Benns Händedruck war den Besuch insgesamt doch
wert gewesen.
Max empfand sich als Gefangener seiner Zeit. Als würde ein
verschneites Dach auf ihm lasten, das jederzeit zusammenbrechen und ihn unter
sich begraben konnte. Eine Heldentat.
Ihm war nach einer Heldentat zumut. Ganz egal welcher.
Eines Abends teilte ihm Ellie mit, daß sie Angst habe,
ihrer Arbeit weiter nachzugehen. Sie sei von der Behörde aufgefordert worden,
einen Ariernachweis zu erbringen, sei aber vom Vater her halbe Jüdin. Offiziell
war Prostitution rigoros verboten, inoffiziell ging vieles weiter wie gehabt.
Auch Präservative zu benutzen oder anzubieten war gegen das Gesetz, dennoch
waren sie überall erhältlich.
Die Nazis machten keinen ernsthaften Versuch, die Menschheit
sittlich umzuerziehen. Doch die Möglichkeit,
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