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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Heimatgefühle
im Exil , und brachte den an Neujahr zu Marius Müller, der einen
kleinen Karrieresprung gemacht hatte und nun Tageblatt-Redakteur war. Der zeigte sich davon ganz angetan. Leider könne
man solch einen Text erst wieder im nächsten Dezember in Druck geben, und nein,
diesmal gebe es keinen Vorschuß, niemand wisse, was im nächsten Dezember sei,
ob die Zeitung, der es schlecht ging, dann noch existiere.
    Der Marquis de Paulignac war für seine sechzig Jahre
erstaunlich viril. Er legte großen Wert auf die Paßform seines gezwirbelten
schlohweißen Schnurrbarts, den er allabendlich in Binden legte. So abgelebt
sein schlaffes, von geplatzten Äderchen durchzogenes Gesicht auch aussah, die
flinken lichtblauen Augen machten etliches wett. Sie schienen in jener
Schlachtplatte von einem Antlitz gewissermaßen ein Eigenleben zu führen. Wenn
er erregt war, zwinkerte der Marquis, ohne sich dessen bewußt zu sein. Die
Augenlider wurden ihm zu Kastagnetten und gaben den schnellen Rhythmus vor, mit
dem seine fleischvollen Lippen am Objekt der Begierde saugten. Max kam ihm
gerne entgegen, der Marquis spürte und honorierte das. Es sei ihm sehr wichtig,
sagte er einmal, daß man sich ihm gegenüber nicht überwinden müsse.
    Um so überraschender wirkte die Kündigung, die ohne Warnung und
Vorzeichen geschah. Max hätte sie nicht im Traum für möglich gehalten.
    Im Januar 1936 eröffnete ihm Raymond, er habe sich verliebt.
Anderweitig. In einen jungen muskulösen Mulatten aus Algerien. Der werde
künftig morgens die Hunde ausführen, es tue ihm leid. Tempora mutantur – et nos – Er flüsterte, mit schamvoll
gesenktem Kopf, und bot Max eine Abfindung an, von tausend Francs, quasi als
Übergangsgeld, als humane, freundschaftliche Geste. Max lehnte ab. Er wollte
nicht als gierig gelten, zudem nahm er den Laufpaß zuerst nicht ernst,
war sich seiner Bedeutung in Bezug auf den Marquis sicher und hoffte auf eine
schnell vorübergehende Geschmacksverirrung. Doch Raymond ließ über Wochen
nichts von sich hören, und Max mußte einsehen, daß jene Quelle, die ihm ein
Mindestauskommen bot, versiegt war. Wovon sollte fortan die Miete bezahlt
werden?
    Kurz dachte er daran, den Marquis zu erpressen. Aber womit? Was er
wem auch immer hätte erzählen können, es wären doch nur Behauptungen gewesen.
Er glaubte sich am Ende eines vergeudeten Lebens, wie es ihm der dummdreiste
Bruder oft genug prophezeit hatte.
    Ellie beruhigte ihn. Sie habe noch etwas beiseite legen können. Er
wollte nicht wirklich wissen, woher das Geld stammte, obgleich er laut danach
fragte. Sie lächelte nur.
    Max beschloß, der Sache das wenige Gute abzugewinnen. Er mußte nicht
mehr um fünf Uhr morgens aufstehen und konnte nachts so viel denken und
trinken, wie er Lust hatte. Im Grunde war das gar nicht so wenig, im Gegenteil,
sein ständig unter Schlafentzug leidender Körper dankte es ihm. Der Roman, den
er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, die Sinnlosigkeit , wurde Nacht
für Nacht verfeinert. Aber immer nur die erste Seite. Eine zweite anzufangen,
davor schreckte er zurück, wie vor etwas Unumkehrbarem, Irreparablem. Vielleicht
waren Gedichte ja eher seine Stärke. Er probierte sich aus, und eines Mittags,
nach knapp tausend verworfenen, vernichteten Zeilen fand er, zu seinem eigenen
Erstaunen, auf dem letzten Sudelblatt der Nacht etwas von Wert und Schönheit,
etwas Schlicht-Naives, das so schlicht und naiv auf den zweiten Blick nicht
war.
    ich
hab die nacht
    allein
verbracht
    an
dich gedacht
    gedicht
gemacht
    hier
bitte schön
    Beinahe hätte er es Ellie gezeigt, aber größer als sein
Stolz war seine Furcht. Ihm graute davor, daß sie etwa sagen könnte:
    Ach,
das ist ja niedlich.
    Oder, viel schlimmer: Bei der letzten Zeile fehlt der Reim. Hast du den vergessen?
    Danach hätte er sich nur noch von ihr trennen können.
    Karl trieb sich zu jener Zeit gerne in zwielichtigen
Spelunken herum, und sein Vorsatz, keinen Tropfen Alkohol anzurühren, wurde
etlichen Prüfungen unterzogen. Für wirkungsvollere Drogen, die ihn
seltsamerweise eher interessiert hätten, besaß er nicht das Geld, er trank also
Café Crème und las Bücher wieder und wieder, die ihm Trost spenden konnten,
besonders gerne Briefe Lenins aus seiner Züricher Zeit, bevor ihn der deutsche
Generalstab in einem plombierten Eisenbahnwaggon nach Rußland geschickt hatte,
als menschliche Geheimwaffe zur Beendigung des Zweifrontenkrieges. Die Seiten
waren über und über mit

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