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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Anmerkungen und Randnotaten versehen.
    Politisch
gravierende Umwälzungen, so lautete eine davon, benötigen Kriege, die
das Sicherheitsdenken der Bourgeoisie aushebeln können. Im Krieg und dem damit
stets verbundenen Chaos werden, und sei es durch Zufall, Möglichkeiten wach (sic!), die
ansonsten immer Träume geblieben wären. Im Chaos obsiegt Taktik über Strategie.
Dem deutschen Generalstab war einzig wichtig, den Gegner Rußland zu
destabilisieren. An die Entstehung des Sowjetreichs wurde keinen Moment
gedacht, ansonsten Lenin sicher liquidiert worden wäre. Kriege sind ganz
besondere Spielfelder, von eigener weltpolitischer Dynamik. Von daher nicht
grundsätzlich zu verurteilen. Der Weg zum globalen Kommunismus wird ganz ohne
Krieg nicht möglich sein, ein gewisser Blutzoll muß wohl entrichtet werden.
    Ein Satz, der Max zu brutal, zu selbstgewiß, also primitiv
erschienen wäre.
    Karl lag viel am Wohl der Menschheit, Max hingegen mehr am Wohl des
Menschen an sich. Zwei schwer zu vereinbarende Ansätze.
    Eines Abends im Januar 1936 wurde Karl von jemandem
angesprochen, in einer vielfrequentierten, weil preiswerten Brasserie an einer
der Porten. Ob er Deutscher sei. Karl bejahte, er konnte kaum anders, denn er
las in einem deutschen Buch und schrieb deutsche Wörter auf dessen Leerseiten
nieder. Der ihn ansprach, war ein hagerer älterer Mann um die fünfzig,
braungebrannt, vielleicht auch von natürlich dunklem Teint, nachlässig rasiert,
mit perlmuttfarbenem Stoppelbart. Er stellte sich als Victor Beaumarchais vor.
Auf dem Kopf trug er eine Art beduinischen Turban, dazu aber einen
konventionellen europäischen Sommeranzug aus weißem Leinen und an den Füßen
moosgrüne Filzpantoffeln, kaum die passende Bekleidung für eine Stadt voller
Pfützen und Haufen aus halbgeschmolzenem Schnee. Seine Lippen bildeten einen
schmalen Strich, wenn er zuhörte, zwei wütend miteinander ringende Schlangen,
wenn er widersprach. Zustimmend äußerte er sich beinahe nie, er machte einen
rechthaberischen bis inquisitorischen Eindruck, alles andere als sympathisch,
dennoch auf eine Weise faszinierend. Er drehte sich Zigaretten aus dem
tiefschwarzen Tabak, den nur Menschen rauchen, die auf die Färbung ihrer Zähne
nichts mehr geben. Auf Nachfrage gestand er, halber Franzose, halber Algerier
zu sein, afrikanisch von der Mutter her. Umgekehrt fragte er Karl, ob er sich
eher als Deutscher fühle oder als Kommunist.
    Karl behauptete, man sei ja doch beides, das erste von
Geburt, das zweite aus Überzeugung. Ob das eine stärker wirke als das andere,
sei eine Frage des Charakters.
    Beaumarchais, der in Wahrheit Jean Zanoussi hieß, verstand nicht,
was Karl damit sagen wollte, und Karl verstand es ebensowenig, aber noch wußte
er ja auch nicht, was und wieviel er diesem fremden Gegenüber überhaupt
mitteilen wollte.
    Bald stellte sich heraus, er war an einen lupenreinen Anarchisten
alter Schule geraten, der Kommunisten nicht ausstehen konnte, weil er sie für
denkfaul und spießig hielt, für brutal und repressiv. Nur der gemeinsame Feind,
der Faschismus, mache es möglich, daß man hier zusammen einen Schnaps trinken
könne. Karl trank keinen Schnaps und ließ sich anfangs auch nicht überreden,
einen auszugeben. Beinahe wäre das Gespräch an diesem Punkt abgebrochen worden.
Einzig Zanoussis Durst führte zu einer Verlängerung.
    Ich gehe bald nach Spanien. Das wird das erste Land, das wir
erobern. Dort werde ich gebraucht. Wo wirst du denn gebraucht?
    Ich weiß es nicht genau. Und das ist mein Problem.
    Soll ich es dir sagen? Für einen Armagnac? Oder einen Aperol? Komm
schon, ein Aperol!
    Karl trug nur wenige Münzen bei sich, aber gut, einen Aperol würde
sein Budget so eben noch verkraften. Ihm war langweilig – und vielleicht ergab
sich ein neuer Artikel daraus.
    Vor vielen großen Pariser Cafés standen eherne Becken, gefüllt mit
glühender Kohle, so konnte man auch im Januar draußen sitzen, unter dem
Vordach, und die eine Hälfte des Körpers der Glut, die andere dem Frost
aussetzen. Das schuf ein gewisses manichäisches Gefühl auf der Haut. Karl
fühlte sich an das Café Reimann in Berlin erinnert, wo es ein ähnlich
verschwenderisches Heizsystem, wenn auch aus viel kleineren Koksöfen, gegeben
hatte.
    Er gierte im Grunde danach, jemandem, und sei es einem völlig
Fremden, von sich zu erzählen. Wobei er sich dafür schämte, wie wenige Sätze
doch eigentlich notwendig waren, um seine Situation hinreichend zu

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