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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Kampf wie nie.
    An Samstagabenden trieb Max sich gerne im Dunstkreis jener
Kaschemmen um, in denen schlichte Vertreter des Subproletariats, gewohnt, im
Durchschnitt dreizehn Stunden pro Tag einer entwürdigenden Tätigkeit
nachzugehen, den einzigen Höhepunkt ihrer Woche auslebten, wenn sie sich
nämlich bis zur Besinnungslosigkeit betranken, obszöne Lieder sangen und
Kellnerinnen egal welcher Attraktivität in den Ausschnitt griffen. Bis die dann
fällige Ohrfeige einen Schlußstrich unter alle Begierden setzte. Gut, manche
besaßen noch die Kraft, im Billigpuff für fünfeinhalb Francs eine Art
Befriedigung zu erheischen. Die meisten aber resignierten, krochen gegen zwei
Uhr nachts in ihre Schlafkojen zurück, um, pleite wie sie meist waren, mit
Sonntagsarbeit ihr Salär aufzubessern. Max dachte lange darüber nach, wie jenen
Existenzen geholfen werden müßte, wie man sie im Sinne einer nietzscheanischen
Revolte sinnvoll levitieren, auf irgendeine Art weiterentwickeln konnte, aber
immer kam er zu denselbem Ergebnis, nämlich daß jede Gesellschaft von einem
arbeitswilligen Bodensatz abhängig war, den keine noch so gut gemeinten, noch
so kundig formulierten Botschaften zu erziehen, gar neu zu formen vermochten.
Diese deprimierende Einsicht, auf die er gerne verzichtet hätte, trieb ihn
genau zu jenem Zynismus, den ihm Ellie manches Mal vorwarf. Max wollte Gutes
bewirken, er wußte nur nicht, wie. Nirgends fand er auch nur Ansätze eines
Entgegenkommens. Seine ehrgeizigen Entwürfe rieben sich wund an der Realität,
begannen zu bluten, und er badete, er, der Prophet im fremden Land, der
Schattenvorauswurf des Übermenschen, in einem Tümpel voller Frösche, die, was
sie vom Leben begehrten, lauthals quakten. Ficken! Mehr Wein hierher! Ein Lied,
eins, zwei! Zeigt uns Titten! Und bist du nicht genau wie ich, polier ich dir
die Fresse. Zum Spaß!
    Ein zahnloser arabischer Bänkelsänger spielte auf seinem Banjo dazu.
    Max
fand, daß er genug gehört hatte, um sich mit vollem Recht in die Einsamkeit zu
schicken, in die hohe, erhabene Einsamkeit, die allein ein Leben in Würde
verspricht. Max blieb oft wach, verliebt in den orangefarbenen, fast
schon rötlichen Schimmer der
Pariser Laternen. Gegen vier Uhr morgens betrat er manchmal die riesigen
Markthallen nahe dem Châtelet, um das dortige Gewimmel und die riesigen Berge von
frischem, duftendem Gemüse zu betrachten. Er mochte die Dämmerung, das Geräusch
der morgendlichen Straßenkehrer mit ihren Dreimeterbesen. Und den Anblick der
blassen, schlaftrunkenen Arbeitermädchen in der Metro, mit einem Croissant in
der Hand.
    Nie war er seinem Bruder gedanklich so nahe gewesen wie in jenen
Monaten. Was er ihm gegenüber natürlich nie zugegeben hätte. Aber manchmal,
gerade in Situationen, wenn er Tagelöhner in ihrer grobschlächtigen Feierlaune
beobachtete, hielt er es tatsächlich für möglich, daß der Kommunismus jenen
ausgebeuteten Affen (es waren für ihn Affen, domestizierte Tiere, nicht
Menschen wie er selbst) ein wenn auch arg primitives Gerüst leihen würde, auf
dem sie geistig wie materiell geringe Fortschritte machen konnten. Bei Tageslicht
dann verwarf er die Idee prompt wieder. Max, obwohl er eine sentimental-soziale
Ader besaß, bis hin zu spontanem Mitgefühl, dachte zutiefst elitär. Ob man den
Affen nun fünfhundert Francs oder sechshundert Francs pro Monat ausbezahlte,
hätte recht wenig geändert, sie würden den Mehrwert doch am Samstagabend
vertrinken. (Karl hätte in diesem Fall geantwortet: Ja, du hast recht. Für
diese Leute kann nichts mehr getan werden. Aber für ihre Kinder kann noch alles getan werden.)
    Dem Ideal einer absurden Gleichheit zuliebe, die nie existieren
würde, die intellektuelle Elite, das Gehirn der Gesellschaft, auszuschalten, zu
ächten, gar mit dem Tod zu bedrohen, einen solchen Wahnsinn konnte nur brutale
rote Ignoranz einfordern, die am Wesen des Menschen achtlos vorbeiging. Das nun
einmal daraus bestand, sich in Szene und über die Mitmenschen hinwegzusetzen,
in irgendeiner Art. Die Welt war ein Tummelplatz der Eitelkeiten und der Mensch
dem Menschen ein Werwolf. Max stand in der Abenddämmerung gerne vor der Kathedrale
Notre Dame, einer Kirche, die in der französischen Revolution einst zum »Tempel
der Vernunft« umgeweiht worden war. Er blickte sehnsüchtig zu den grotesken
Wasserspeiern, den Gargouilles ,
mit ihren tollen Fratzen hinauf – und fühlte sich ein wenig wie Quasimodo, nur
ohne Bukkel. Und ohne

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