Nicht lecker, aber Weltrekord
im Sitz zurück und erwidere nachdenklich: »Das Leben hat mich eines gelehrt, Fernando: All das – es kann jederzeit vorbei sein. Erinnere dich an Reno.«
»Sprich nicht von Reno«, entgegnet er flüsternd und legt seinen Zeigefinger auf meine Lippen. »Wie wäre es, wenn ich dich noch ein wenig attachiere, bis wir im ›Luxor‹ sind …?«
So in etwa habe ich mir mein Leben als Spielsüchtige vorgestellt, auch wenn ich die hässliche Szene in Reno dabei gern verdränge. Aber die Dinge entwickeln sich meist etwas anders, als man denkt. Auf der einen Seiteist meine wahre Spielsucht herrlich klassisch. Sie besitzt alle Charaktereigenschaften, auf die eine solide Lebensverpfuschung gründen sollte: Ich verheimliche meine Sucht, schäme mich für sie, finde tausend Ausreden und Entschuldigungen und versichere mir und anderen, dass ich jederzeit damit aufhören kann.
Auf der anderen Seite ist sie äußerst unterentwickelt. Bei meinem Spiel gibt es keinen Einsatz und dementsprechend auch keine Gewinnchancen. Nicht einmal soziale Interaktion erlaubt mein Spiel, nur die Möglichkeit, sich selbst zu demütigen. Denn mein Spiel ist das niedrigste aller Spiele, das Spiel, dem jene Sekretärinnen erliegen, denen Solitaire zu komplex erscheint. Es ist ein Spiel, das schon in vergangenen Jahrhunderten ein Synonym für unheilbare Dösigkeit gewesen ist.
Wenn bei einem Ball die Debütantin vorgestellt wurde, die einem Mastodon gleich auf dem Parkett herumstampfte, und ihr debiles Lächeln dabei das vorläufige Endergebnis eines von Generationen gepflegten Inzests preisgab, dann tuschelten die Adelsdamen hinter vorgehaltenen Fächern: »Das muss die kleine Raffgundis-Sophie sein, wie schrecklich! Sogar der Glöckner soll sie abgelehnt haben. – Nun ja, man sagt, sie spiele ganz passabel Mah Jongg.«
Mah Jongg, das ist mein Spiel! Natürlich nicht die althergebrachte Variante, die ein Minimum an strategischem Denken oder wenigstens an Wachsamkeit verlangt. Nein, ich spiele die Computerversion von Mah Jongg, schon, um meine haptische Entwicklung zu schonen.
Bei diesem Spiel geht es darum, Steine hochzuheben, natürlich per Mausklick. Klingt zunächst läppisch, aber in bis zu achtzehn Schwierigkeitsgraden kann man, als versierter Spieler, bis zu tausend Steinchen heben, an nur einem Nachmittag. Zusätzlicher Nervenkitzel entsteht dadurch, dass man sich verheben kann. Ein falscher Klick, und zack muss man von vorne anfangen, bei Level 1.
Wer allerdings die richtigen Steinchen klickt, wird reich belohnt. Sie blinken auf wie Sternschnuppen und verschwinden für immer. Und damit nicht genug. Ist der erste Steinhaufen verschwunden, geht es in rasanter Fahrt direkt weiter: Ein neuer, noch höherer Steinhaufen, der abgetragen werden will, erscheint. Für je zwei Steinchen, die der Spieler wegklickt, erhält er zwei Punkte. Die könnte er zum Beispiel in der wirklichen Welt an prominenter Stelle in seinem Lebenslauf erwähnen, um auf diese Weise den Gefahren eines bezahlten Arbeitsverhältnisses zu entkommen.
Im Klartext: Ich bin die Klebstoffschnüfflerin unter den Spielsüchtigen. Und ich will da raus.
Bei der Bekämpfung einer Sucht ist es immer wichtig, als Allererstes zu erkennen, dass die jeweilige Suchtsubstanz stets nur ein Ersatzstoff ist für das, was man eigentlich will.
Der Kokser will nichts anderes, als die Welt beherrschen. Die Menschen, die sich von Ecstasy-Pillen ernähren, wollen bloß tanzen dürfen, ohne dabei ausgelacht zu werden, und Sexsucht befällt die, die eigentlich nur Sport treiben wollen, aber zu faul sind, dafür extra aufzustehen.
Aber was versuche ich zu kompensieren, indem ich am Computer Steinchen umdrehe?
Ist es mein tiefster, heimlichster Herzenswunsch, eine ziemlich oberflächliche Archäologin zu sein? War ich vielleicht in einem früheren Leben ein Flamingo, der seine Nahrung nur durch das Umdrehen von Steinchen finden konnte? Die Wurzeln liegen wahrscheinlich tiefer. Ein Kindheitstrauma ist nicht auszuschließen. Wenn ich mich selbst hypnotisiere, höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie ruft: »Katinka, der Ersatzschlüssel liegt unter dem Stein im Garten!«
Aber sie hat nie gesagt, welchen Stein sie meinte, und wenn ich nach Hause kam, war es bereits viel zu dunkel, alle Steine zu orten und dann auch noch umzudrehen.
An dieser Stelle verblassen die Bilder meiner Erinnerung, ich höre nur noch ein Geräusch, ein Klingeln, und die verschlafene Stimme meines Vaters.
»Mein Gott, wann
Weitere Kostenlose Bücher