Nicht lecker, aber Weltrekord
sie haben mich auf dem Kieker. Während andere erwachsene Menschen meist unbehelligt an ihren Zusammenrottungen vorbeigehen können (es sei denn, diese Erwachsenen sind sehr dick, sehr dünn, haben komische Ohren oder eine Frisur), ziehe ich ihre Blicke auf mich. Sie wittern mich geradezu, und dann schlagen sie Alarm.
Das typische Szenario solcher unbeabsichtigten Treffen sieht so aus:
Ich gehe aus Versehen am helllichten Vormittag an der Schule vorbei zum Supermarkt. Irgendein irrer Lehrer hat die Schnecken nicht richtig beaufsichtigt, denn obwohl sie in der großen Pause auf dem Schulhof eingesperrt werden sollten, lungern vier von ihnen vor dem Sicherheitsgitter auf dem Bürgersteig herum. Ein Fischmädchen quaddelt von der anderen Seite durch das Gitter und isst überraschenderweise irgendeine Schokomahlzeit, zwei Vogelmädchen versuchen, von ihr abgewandt, die Kalorien nicht einzuatmen. Sobald ich die gefährliche Situation erkenne, ist es schon zu spät. Wenn ich jetzt die Straßenseite wechselte, würde ich alles nur noch schlimmer machen. Nun heißt es, schnell vorbei, aber nicht zu schnell, erhobenen Hauptes, aber dabei nicht größer wirken als die dicken Schneckenboys. Das Vertrackte an den Biestern ist ja, dass sie auf fast allesanspringen, je nach Lust und Laune. Und es ist nicht wie bei Bären, wo man weiß: Beim Grizzly hilft klettern, beim Schwarzbär Pfefferspray und beim Eisbär beten.
Bei Teenagern im Rudel gelten keine festen Regeln, außer vielleicht die, dass man sie nicht füttern soll. Es ist auch keine gute Idee, rotgefärbte Haare und ein Band-T-Shirt mit dem Schriftzug »Bierkadaver« zu tragen, erschütternd kombiniert mit kurzem Rock und schlechtrasierten Beinen. Das können die nicht wechseln. Schnecke 1 tritt also Schnecke 2 auf den Fuß, um sie von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen. Schnecke 2 glotzt mich an, röchelt, Fischmädchen fühlt sich als Spottopfer übergangen und grölt:
»Ey, was is’n? Was glotzt’n ihr so, ey?«
Woraufhin alle Schneckenkerle prusten, mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: »Ey, guck mal, die is voll … die hat voll die …«
Bevor sie dann endlich sagen können, was an mir so außergewöhnlich ist, mischen sich die Vogelmädchen ein: »Ja, was denn? Findeste die scharf, oder was?«
Und dann lachen alle, so unglaublich schäbig, gerade in dem Moment, in dem ich direkt an ihnen vorbeigehe. Und wenn ich denke, demütigender kann es jetzt nicht werden, ruft mir eine Schnecke hinterher: »Ey, Sie, haben Sie mal eine Zigarette für mich, bitte?«
Dann grinse ich schief, verschanze mich für sechs Stunden im Supermarkt und gehe erst wieder zurück, wenn ich weiß, dass auch die Nachmittagskurse an der Höllenschule endlich vorbei sind.
Natürlich ist das krank. Aber es ist auch kränkend.Besonders das Siezen. Natürlich würde jeder, der nicht in meiner Haut steckt, versuchen, mich zu beruhigen, indem er sagt: »Die haben doch bestimmt mehr Angst vor dir als du vor ihnen.« Kann schon sein. Allerdings bin ich nicht in der Lage, daraufhin tapfer zu nicken und die üblichen Gegenfragen zu stellen, wie: »Kannst du die trotzdem wegmachen? Am besten mit dem Staubsauger? Und dann den vollen Staubsaugerbeutel bitte zubinden und in den Sondermüll bringen, am besten direkt zur Deponie? Könntest du auch Fotos davon machen, wie der Müll verbrannt wird?«
Nein, Teenager sind eben keine Spinnen, Hysterie ihnen gegenüber wird nicht als niedlich empfunden. Hilft also nur psychologische Kriegsführung, die auf ihre Schwachpunkte abzielt. Wenn die Teeniequappen also noch mehr Angst vor mir haben als ich vor ihnen, gilt es herauszufinden, was genau sie an mir fürchten? Wahrscheinlich, dass sie mich nicht einordnen können. Ich bin keine echte Erwachsene für sie, jedenfalls passe ich in keines ihrer gelernten Schemata. Hätte ich einen richtigen Beruf, würde ich nicht mittags um zwölf an ihnen vorbeigehen, und wäre ich arbeitslos, wäre ich in dieser Gegend um diese Uhrzeit schon betrunken.
Allmählich allerdings verstehe ich, wie ungeheuer bedrohlich ich auf sie wirken muss. Für die kleinen Quappen bin ich kein Frosch, sondern ein Grottenolm. Irgendwie unentschlossen, zu feige, festen Grund zu betreten, zu faul für eine anständige Krötenwanderung, zu blöd, selber abzulaichen. Ich hause nahe bei ihnen, in einem sumpfigen Loch, kann zwar an Land gehen, mussaber nicht, meistens verstecke ich mich. Bin kein Vogel, kein Fisch, keine Schnecke, kein
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