Nicht ohne Beruf (German Edition)
Aufzeichnungen, die ausgedruckt auf dem Tisch liegen.
„Toll, dass du das alles aufschreibst! Da werden sich deine Enkel aber freuen. Und woran du dich so alles erinnerst!“
„Ja, im Oberstübchen funktioniert es noch recht gut.“
Bei dem Stichwort ‚Nachkriegszeiten‘ im Text steigen Erinnerungen auf, vor allem solche an den Speisezettel!
„Heute schüttelt es mich bei den Erinn erungen, aber die Not war groß. Wir ließen uns vom Chefarzt Rezepte ausstellen auf Rizinusöl! Ein Abführmittel! Das wurde zum Braten verwendet und hinterließ einen fürchterlichen Gestank.“ Auch nach so langer Zeit schüttelt es Leni, wenn sie nur daran denkt.
„Selbst alle gewöhnlichen Wald- und Wi esen-Teesorten gab es auf Rezept fürs Frühstücksgetränk zum trockenen Brot. Als Bela g ga b es mitunter Undefinierbares wie ‚Aggapaste‘, ein Restprodukt der Filmproduktion in der Industrie. Manchmal wa r das wirklich eklige Zeug schon grünlich.“
„Du, Margret, nanntest das drastisch Agga-Scheiße.“
„Woraus haben wir denn eigentlich Bi enenstich gemacht? War das aus gerösteten Eicheln?“
„Nee, Kaffee aus Eicheln. Für Bienenstich nahmen wir Erbsen, denke ich.“
Im Schlagabtausch ging es so weiter.
„Schlagsahne! Dafür haben wir Kartoffelstärke so lange geschlagen, bis sie steif wurde und aussah wie Schlagsahne. Da fällt mir so ein Spruch ein: Und auf ganz bekannte Weise stirbst du nach der Schaumspeise, liebe Hausfrau.“
Munter sprudel t es herauf: Und der Teufel holt dich lässig, nimmst du einmal Molkenessig, liebe Hausfrau. Oder: Siehst du die Gräber dort im Tal? Das sind die Raucher von Reval.
„Apropos Rauchen. Mutti, ich muss en dlich beichten, dass ich damals von deiner Tabakzuteilung stibitzt habe. Ein anderes Mädchen hatte Zigarettenpapier. Im Trümmergrundstück an der gegenüberliegenden Straßenecke haben wir dann unsere ersten Kotzbalken gepafft. Aber das ist verjährt, Mütterchen!“
„Du, du“, droht Leni – zu spät.
„Aber dafür habe ich auch die Pferdeäpfel von der Straße aufgelesen und für deinen Garten mitgebracht. Irgendwann konnte ich keine Tomaten mehr essen.“
„Ach Gottchen, waren das Zeiten! Alles drehte sich nur ums Essen. An Pfahlm uscheln erinnere ich mich, die noch allen inneren Dreck aufwiesen.“
„Ja, die hatte ich aus dem Auensee g etaucht“, werf ich ein.
„Rote Rüben waren eine Variation unseres Speisezettels. Gekocht wurde im Röntgen, wo das Gerät für Skelettaufnahmen stand, auf einem kleinen elektrischen Kocher. Dessen Spirale lag frei und schmorte oft durch, wurde stets wieder provisorisch g eflickt.“
„Spinat mag ich seit den Nachkriegszeiten überhaupt nicht!“ Allein beim Gedanken daran schüttelt es mich. „Den gab es ja mindestens viermal in der Woche. Spinat aus Mangold, mal aus Melde oder Löwenzahnblättern, mal von Spinatblättern, aber auch aus Rübenblättern und sogar aus Brennnesseln! Und so eklig durch den Fleischwolf gedreht! Sah aus wie Gänseschiss.“
Margret erinnert sich: „Wir waren so schrecklich hungrig, dass wir sogar Ko ntrastbrei, Bariumsulfat, geschluckt haben. Nur um Gewicht im Magen zu haben. Die Schwarzmarktpreise konnten wir ja nie zahlen! 200 Mark für nen Liter Öl!“
„Da wurde man ja auch noch beschissen: In einer Fleischbüchse war nur oben und u nten ne dünne Schicht Fleisch; dazwischen Grießbrei.“
„Einmal brachte der Röntgenologe eine Dose aus alten Militärbeständen mit. Ich weiß zwar nicht mehr, was drinnen war, aber es war ein Festessen.“
„Mutti, du hast ja immerzu angeschleppt, ich sah auf allen Klassenfotos stets wohlgenährt aus. Aber bei Tante Dora war es schlimm. Der Gipfel waren Schnitzel aus panierten Kürbisscheiben. Brrr.“
„Ja, meine arme Schwester, ohne Beruf mit ihren zwei Jungs! Ihr Mann, Uta nannte ihn ‚Onkel Papi‘, kam ja nicht wieder nach Hause.“
„Ist er gefallen?“
„Nein, er hat den Krieg überlebt, kam in Gefangenschaft, wurde von den Alliierten ordnungsgemäß entlassen. Aber als er nach Leipzig wollte, haben ihn die Russen hops genommen. Sie kümmerten sich einen Dreck um seine Papiere und verschleppten ihn mit dem nächsten Gefangenentransport in die SU. Kameraden berichteten später, dass sie ihn noch in Sibirien in einem Gulag gesehen hätten. Da sei er aber schon recht krank gewesen.
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